piwik no script img

Doris ist sein Champion

Der Skin Seamus ist passionierter Taubenzüchter  ■  Aus Dublin Ralf Sotscheck

Das „Pearse House“ ist ein häßliches Wohnsilo in Dublins südlicher Innenstadt. An den langen Balkons, über die man in die Wohnungen gelangt, blättert die Farbe ab. Der große, helle Innenhof ist betoniert und mit Wäscheleinen überspannt. Die Kriminalitätsrate, sagt Sozialarbeiterin Mary Quinn, sei hier im Vergleich zur nördlichen Innenstadt wesentlich niedriger. „Die Mobilität ist viel geringer, der Zusammenhalt größer. Niemand käme auf die Idee, den Nachbarn die Wäsche zu klauen, obwohl die Armut erschreckend ist.“

Manch dreiköpfige Familie lebt von einer einzigen Sozialhilfe, weil die Leute nicht wissen, was ihnen zusteht. Zwischen den Wäscheleinen stehen mehrere Reihen kleiner Holzschuppen, die in einem erbarmungswürdigen Zustand sind. In den Schuppen sollen Fahrräder und Kinderwagen abgestellt werden, damit man sie nicht nach oben in die Wohnungen schleppen muß. Bei auffallend vielen dieser Schuppen ist die Tür jedoch durch ein Drahtgitter ersetzt: Die Schuppen sind zu Taubenschlägen umgebaut. Vor einem dieser Käfige bleiben wir stehen, in dem fünf oder sechs Vögel auf ein paar abgesägten Ästen vor sich hindösen. Sofort sind wir von fünf Jugendlichen umringt. Ein Skinhead schnauzt uns an: „Was wollt ihr hier? Laßt die Tauben in Ruhe.“ Mary hat die Situation im Griff. Nach ein paar bewundernden Worten für die Tierchen wird Seamus, der Skinhead, freundlicher. Er öffnet das Drahtgitter an der Seite und klettert in den Taubenschlag. Mit geübtem Griff fängt er einen der Vögel, breitet dessen Flügel aus und kontrolliert das Gefieder offenbar auf Ungeziefer. „Das ist Doris“, sagt Seamus. „Sie ist erst knapp elf Monate alt und hat schon zwei Preise gewonnen.“

Wer seine Brieftauben an Rennen teilnehmen lassen will, muß Mitglied in einem Verein sein. Die Vereine sind zu Bezirksverbänden zusammengeschlossen, die wiederum der Dachorganisation „Irish National Flying Club“ im nordirischen Lisburn unterstehen. Für Dublin und Umgebung sind zwei Bezirksverbände zuständig. Der „Irish South Road Federation (ISRF)“ gehören neben Seamus‘ Club 24 weitere Vereine mit 2.500 Mitgliedern an. Die müssen 130 Mark pro Jahr zahlen. Dazu kommen jede Woche zehn Mark für Vogelfutter. Woher nimmt Seamus das Geld? „Früher habe ich Zeitungen ausgetragen“, sagt er. „Das habe ich jetzt nicht mehr nötig. Mit dem Preisgeld, das Doris bisher gewonnen hat, komme ich noch mindestens ein Jahr über die Runden.“

Von April bis Oktober dauert die Saison. In dieser Zeit finden an jedem Wochenende Rennen statt. Das größte Ereignis ist der „King's Cup“ im Juni, der vom Dachverband ausgerichtet wird. Das Preisgeld betrug in diesem Jahr immerhin 70.000 Mark und ein Auto. Dafür müssen die Vögel allerdings den Weg von Frankreich über den Englischen Kanal bis in ihre heimatlichen Taubenschläge finden. Bei den Rennen der Bezirksverbände ist nicht so viel zu holen. Hier müssen sich die 50 Bestplazierten 2.500 Mark teilen.

Die Rennen beginnen immer am Freitagabend. Die Taubenbesitzer bringen ihre Vögel zum Clubhaus, wo den Tieren ein numerierter Gummiring ums Bein gebunden wird. Jeder Teilnehmer erhält eine versiegelte Spezialuhr. Am Samstag morgen werden die Brieftauben in Lastwagen zum Startpunkt gebracht. Die ISRF, die im letzten Jahr ihr 20jähriges Bestehen feierte, besitzt inzwischen zwei Sattelschlepper, mit denen insgesamt 26.000 Tauben transportiert werden können. Nachdem sie freigelassen worden sind, fliegen die Brieftauben automatisch in Richtung Heimat. Wenn sie ihren Taubenschlag erreicht haben, nimmt der Besitzer ihnen den Gummiring ab und legt ihn in eine Kapsel, die dann so schnell wie möglich in die Spezialuhr geworfen wird. Dadurch wird die Uhr angehalten und druckt die Gesamtzeit aus. Manche Rennen sind durch Bruchteile von Sekunden entschieden worden.

Doch nicht immer geht alles glatt: Im Juli schickte die ISRF eine gefiederte Ladung nach Reims, von wo die Vögel zur Feier der Französischen Revolution zurück nach Dublin fliegen sollten. Doch bis heute ist keine der 1.200 Brieftauben wieder aufgetaucht. Auch Seamus beklagt den Verlust eines potentiellen „Champions“. Er sagt: „Es war das erste große Rennen, an dem mein Vogel teilgenommen hat. Mein Vater glaubt, daß die Franzosen die Tauben abgeknallt und aufgefressen haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen