Wird Polen das Sizilien des Ostens?

Gewaltiger Anstieg der Kriminalität durch Verelendung / Im Schnitt zwei Morde täglich / Organisierte Banden räumen über Mittag Wohnungen aus / Polizei klagt über Personalmangel, Presse über Arroganz der Polizisten  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Der nördliche Teil des Warschauer Stadtteils Praga hat seinen eigenen Reiz. Praga wurde während des Warschauer Aufstandes nicht zerstört, dort gibt es noch viele alte Häuser mit Hinterhöfen, geheimen Gassen, Kellergängen. Ein Paradies für Händler, Gauner und Hehler. An jeder Straßenecke verkauft jemand Knoblauchzehen, geschmuggelte Kleider, Lebensmittel. Vom Computer bis zur abgesägten Schrotflinte ist in Praga alles zu haben. Obwohl die Unterführung unter der Targowastraße vom Schnee überschwemmt ist, drängen sich die Leute dicht an dicht. Unter einem Schild, das Handel in der Unterführung streng verbietet, werden Trödel, Obst, Werkzeuge und westliche Plastiktüten gehandelt.

Eiskalt

Am Eingang hat sich eine Menschentraube gesammelt, in deren Mitte eine ältere Frau mit zwei dicken Einkaufstaschen hilflos und verzweifelt weint. „Aus der Tasche haben sie mir's genommen“, jammert sie, „60.000 Zloty waren's.“ Die Umstehenden zeigen mehr Neugierde als Mitgefühl. „Ist mir auch schon ein paarmal passiert“, meint eine jüngere Frau trocken und geht ihres Weges.

Die WarschauerInnen haben sich offenbar an das Leben mit der täglichen Kriminalität gewöhnt. Am hellichten Tag zerrten zwei Männer auf Warschaus mehr als belebten Vorzeigeboulevard „Nowy Swiat“ den Kunden einer Wechselstube in einen Hauseingang, schlugen ihn krankenhausreif und raubten ihn aus. Vor den Augen der Belegschaft einer ganzen Kleiderfabrik im Stadtteil Saska Kepa räumten drei Einbrecher um ein Uhr nachmittags eine komplette Wohnung leer, trugen die Einrichtung in Bettüchern über die Straße in einen bereitstehenden Lieferwagen. Der verzweifelten Eigentümerin hatte die Polizei wenig Trost zu bieten: Man habe keine Zeit für Einbrüche, es sei gerade ein Kind entführt worden. Einem Journalisten, den Einbrecher in exakt jener halben Stunde, in der seine Wohnung nicht bewacht war, seiner kompletten Video-, Satelliten- und Computereinrichtung beraubten, erklärten die Polizisten anschließend, solche Vorfälle kämen in Warschaus vornehmster Gegend täglich dutzendfach vor. Während sie die Spuren sicherten, klingelte dreimal das Telefon: Neue Einbrüche wurden gemeldet.

Ergebnisse brachten die Ermittlungen bis jetzt noch nicht, nur so viel ist sicher: Auch Polen hat jetzt sein organisiertes Verbrechen, und das beschränkt sich nicht nur auf Schieberbanden zur Versorgung des Berliner Krempelmarkts. Angefangen mit den Überfällen auf offener Straße hat ursprünglich eine Bande aus Lodz, die immerhin bereits ein halbes Dutzend Raubzüge und einen Toten auf dem Gewissen hat. Dann brachte das Fernsehen in einer „Aktenzeichen XY ungelöst„-ähnlichen Sendung einen Fahndungsbericht. Seitdem hat die Methode auch in anderen Städten Nachahmer gefunden. Täglich, so meldete die Warschauer Tageszeitung 'Zycie Warszawy‘, würden in Polen inzwischen zwei Menschen ermordet.

Lustlose Polizei

Auf die Gewaltwelle angesprochen, zählte Regierungssprecherin Malgorzata Niezabitowska auf einer ihrer letzten Pressekonferenzen auf: Im Vergleich zum Vergleichsmonat des Vorjahres sei die Zahl der Einbrüche in Privatwohnungen im November 89 um 101%, bei öffentlichen Gebäuden um 64% gestiegen. Raubüberfälle gab es 58% mehr. Zur gleichen Zeit sank die Aufklärungsquote von 66% auf 53%. Nur Morde werden in 90% der Fälle gelöst. Die Zahlen entstammen der Statistik des Innenministeriums, mit dessen Chef General Kiszczak einige Minister jüngst einen heftigen Strauß ausfochten. Sie warfen ihm bei einer Kabinettssitzung vor, seine Polizei arbeite schlampig, verhalte sich arrogant und sei in einen Bummelstreik gegen die Regierung getreten. Kiszczak, so verlautete, habe nicht widersprochen. Er kehrte den Spieß um: Wenn man die Polizei kritisiere, dürfe man sich nicht wundern, wenn sie die Lust an der Arbeit verliere. Im übrigen fehlten dem Ressort 12.000 Polizisten, und dies, obwohl im Zuge der Auflösung und Verkleinerung der geheimpolizeilichen Abteilungen 9.000 Beamte in den regulären Polizeidienst umversetzt wurden.

Das war denn auch die einzige gute Nachricht, die Regierungssprecherin Niezabitowska in diesem Zusammenhang zu verkünden hatte: „Ausländische Journalisten“, meinte sie auf die Frage einer Korrespondentin, „werden nicht mehr abgehört - es sei denn, sie sind Spione.“