Die alljährliche Wiedergeburt Japans in der Masse

An Neujahr müssen die JapanerInnen einen Tag lang nicht arbeiten / Fast alle Räder stehen dann still, und 80 Millionen Menschen werden zu PilgerInnen vor den Shinto-Schreinen / Neujahr in Japan gehört Gott und der Familie  ■  Aus Tokio Georg Blume

Plötzlich stehen die Räder still. Japan ruht aus, holt Atem fürs kommende Jahr. Da bleibt - nach 362 flimmernden Tagen die gigantische Videowand in Tokios Zentrum einfach schwarz. Da stinkt es in den Straßen, weil die Müllabfuhr ruht. Da sind sogar die großen Kaufhäuser geschlossen. Welch sonderbare Atmosphäre in der Riesenstadt: Die U-Bahn ist leer! Doch dann wieder Geschrei und Gerangel. Am Fahrkartenschalter drängt sich eine Horde zehnjähriger Jungs. Und komisch: Sie tragen Schuluniform. Tatsächlich, sie kommen aus der Schule, der täglichen privaten Nachhilfeschule. „Der Lehrer hat uns heute viel früher nach Hause geschickt“, freut sich ein Knirps. Also stehen alle Räder doch nicht still. Der Schulbetrieb geht weiter. Seit etwa zehn Jahren werben Privatschulen mit Unterricht an 365 Tagen im Jahr.

Nichts konnte gegen die Tradition provozierender sein. Denn die Neujahrstage gehören in Japan nicht der Arbeit und dem Geschäft, sie gehören der Familie und den Göttern. Drei Tage lang ist Feiertag. Das erste und womöglich einzige Mal im Jahr, daß Eltern einen ganzen Tag mit ihren Kindern spielen. Im Olympia-Park von Tokio lassen die Jungen dann Drachen steigen und die Mädchen spielen mit buntbemalten, dreieckigen Holzschlägern eine Art Federball. Das sind die japanischen Neujahrsspiele. Sogar die ewigen Parkbewohner, die Obdachlosen, schauen den Kindern beim Spielen zu.

Dieses Jahr beginnt mit 108 Glockenschlägen. Keine Silvesterkorken, geschweige denn Raketen. Kein Prosit und kein Knall, und erst recht keine Umarmung. Statt dessen warten 108 Gläubige an einem kleinen buddhistischen Tempel in der Tokioter Vorstadt Kunitachi auf den Wink ihres Priesters, der sie anweist, eine Kerze anzuzünden, seinem kurzen Versgedicht zu lauschen und dann die große Tempelglocke mit aller Kraft anzuschlagen. 108 mal, einer nach dem anderen. Und Hunderte von Nachbarn schauen zu. Dann endlich, so will es der Brauch, sind alle bösen Gesiter des alten Jahres vertrieben. Aus dem gleichen Grund brennen in dieser Nacht große Lagerfeuer an den Shinto-Schreinen, haben Gläubige ihr Haus in den letzten Tagen gründlich geputzt. Auch damit werden die Teufel vertrieben, wird das Alte wieder neu hergerichtet. Darin liegt der Kern des religiösen Rituals in der Silvesternacht.

Was aber geschieht dann? Wie fängt das Leben wieder von vorne an? Die Stunde Null des Jahres hat noch gar nicht geschlagen, da stehen vor der Kultstätte der Shintoisten, dem unscheinbaren Schrein in Kunitachi, bereits Hunderte Schlangen. Familien mit ihren Kindern. Sie schwatzen munter miteiander, keine Spur von Kirchenstille. Am Schreintor in Kunitachi weht eine japanische Flagge. Schließlich ist der Sonnenbanner die Kaiserfahne, war der Tenno jahrhundertelang der Shintoisten oberster lebendiger Gott. Unter der Fahne knien die Gläubigen kurz zum Gebet.

Ganz anders die Situation am folgenden Tag in Tokio. Hunderttausende drängen zum Meij-Schrein, der Grabstätte des berühmten japanischen Kaisers. Es scheint, als gingen gerade zum Jahresbeginn alle Japaner den gleichen Weg. Nun erst läßt sich mit einem Blick begreifen, was die Zeitungen bereits Tage zuvor verkündeten: 80 Millionen Japaner, zwei Drittel der Inselbevölkerung, machen in den ersten drei Januartagen mit beim „Hatsu-mode“, dem Schreinbesuch. Das ist der größte Pilgermarsch in der industrialisierten Welt.

Kein Platz mehr zum Umdrehen. Drückend bewegt sich die Menge, die aus zwei, drei Bahnhöfen in die Stadt quillt, auf das Heiligtum zu. Innerhalb von 20 Stunden nach der Jahreswende habe die Polizei drei Millionen Besucher am Meiji-Schrein gezählt. Das größte Problem, meint der Polizist, seien Kinder, die ihren Eltern verloren gingen. Sonst habe man alles unter Kontrolle. Niemand drängelt niemand schubst, als ob alle auf die wenigen Frauen im vornehmen Kimono Rücksicht nähmen, denen die enge Kleidung nur einen Trippelschritt erlaubt. Eine große Banderole verkündet das wichtigste religiöse Ereignis im neuen Jahr, den 100. Jahrestag der Unterzeichnung des kaiserlichen Erziehungsedikts von 1890, einer Schrift, die im japanischen Staatsfaschismus den Status eines moralischen Grundgesetzes erlangte, weil sie den Japaner zum Untertanen für den Dienst am Staat machte. Natürlich wissen die wenigsten Pilger der modernen Zeit vom historischen Hintergrund. Zum Nachdenken bleibt auch jetzt keine Zeit. Denn als die endlose Menschenschlange in den Hof vor dem Meijischrein gelangt, ist der Lärm groß. Aus unzähligen Megaphonen diktieren Polizisten das richtige Benehmen. Eltern dürfen ihre KInder nicht auf die Schultern nehmen. Man soll nicht zu lange verweilen. Immer wieder die gleichen Ansagen, aber keine Ruhe zum Gebet. Warum die Leute kommen? „Weil der Schrein alle meine Probleme kennt. Ich erzähle sie ihm jedes Jahr“, meint eine junge Japanerin. „Weil wir jedes Jahr um diese Zeit hierherkommen“, lächelt ein älteres Ehepaar. „Weil ich mir hier etwas wünsche“, ergänzt ein junger Student. Und Wünsche sprechen sie alle. Kleine Holz-Täfelchen werden mit einem Wunsch beschriftet und vor dem Schrein aufgehängt. Schüler und Studenten wünschen sich gute Prüfungsergebnisse, Ältere ein gutes Berufs- und Ehejahr. Ein Kind wünscht sich 8.000 DM Neujahrsgeld. Dann das letzte Ritual. An einer Losbude verkaufen Schreinwärter Horoskope. Fast jeder Schreinbesucher zieht sein Los, überfliegt kurz die sehr moralisch gefärbte Botschaft und bindet den Papierfetzen um den Ast eines Buches im Schrein-Garten. Zwei Studenten wissen nicht, warum sie das tun. „Vielleicht weil auch die Büsche heilig sind“, meint der eine. „Nein“, sagt sein Freund. „Ich mache es, weil es alle tun“. Und dann sagt der Achtzehnjährige etwas erstaunliches: „Es ist eben typisch für Japaner, daß sie dorthin gehen, wo viele Menschen hingehen. In der Schlange haben sie immer das Gefühl, das richtige zu tun. Ich auch“.