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West-Besucher im Ostmark-Fieber

■ Nachdem die Grenzen offen und der Umtauschkurs günstig ist, besuchen Westler vor allem Wechselstuben, Buchläden und Restaurants / Im „Centrum„-Kaufhaus am Alex ist nix los / Statt lange zu warten, wird schon mal schwarz getauscht

Die vier Studenten aus West-Berlin wollen sich mit den drei dicken Buchpaketen unterm Arm nicht fotografieren lassen. Daß sie in der Buchhandlung „Das gute Buch“ am Alexanderplatz mächtig zugelangt haben, ist ihnen unangenehm. Was sie gekauft haben, erzählen sie wenigstens: Fachbücher - „Was es halt so gibt“.

Vor dem Buchladen am Alex schlängelt sich ein langer Warte -Wurm. Eine Mittvierzigerin, die sich als einzige DDR -Bürgerin zwischen die Kunden aus dem Westen eingereiht hat, nimmt es gelassen. „Das ist immer so“, meint sie ungestört. Ein Volkspolizist stimmt ihr zu: „Das Warten liegt nicht an den Besuchern aus dem Westen.“

Vor einem kleinen Buchladen in der Friedrichstraße wartet keiner - die West-Leseratten sind schon drin. Eine 22jährige Bibliothekarin packt ununterbrochen Bücher in Packpapier, ihre Kollegin tippt nicht enden wollende Zahlenreihen auf den Tasten der mechanischen Registrierkasse. Seitdem die Grenzen offen sind und auch der neue Wechselkurs gilt, ist der Laden am S-Bahnhof von morgens bis abends voll. „Die üblichen Kunden trauen sich hier nicht mehr rein“, sagt die 22jährige. Wenn in diesem Buchladen etwas wartet, dann die Werke von Engels. Gelangweilt stehen sie im Bücherregal. Welche Bücher von dem neuen Publikum besonders begehrt sind, weiß die Angestellte am Packtresen nicht: „Naja, wir sagen immer, das geht nach Kilos.“

Das billig gewordene Ost-Geld (3 Mark für 1 Mark West) gibt es an Wechselstuben der „Staatsbank der DDR“ und selbst im fünften Stock des Kaufhauses „Centrum“ („Ein Weg - Ihr Vorteil“). Lange Schlangen auch hier. Ein Bielefelder hat 130 Mark (DDR) eingetauscht und wird sich ein paar Etagen tiefer dafür einen Elektronik-Baukasten kaufen, „der bei uns viel teurer ist“. In welchen Stockwerken die devisen -schweren Bundesrepublikaner aber ansonsten abbleiben, ist ein Rätsel - im „Centrum-Kaufhaus“ unweit des blinkenden Ostberliner Fernsehturmes jedenfalls nicht. „Ich habe nicht mehr Kundschaft“, sagt eine Textilverkäuferin mit orangenem Kittel, „abends höre ich vielleicht mal von Kolleginnen, daß mehr Touristen da sind“.

Wie gesagt, vor Wechselstuben sind sie jedenfalls immer zu treffen. Auch im „Reisebüro der DDR“ gegenüber vom „Centrum“ -Kaufhaus. An den drei Geldschaltern sind die Schlangen so lang, daß mancher sich erst gar nicht anstellt. „Da tauschen wir lieber schwarz“, motzt einer ungeduldig. Zumindest ein kurzes Warten lohnt aber. Denn schon bietet ein schlauer DDR -Bürger seine wertlose Inlandswährung einem westdeutschen Rentnerpaar an. Die begehrten Devisen werden schnell getauscht. Kurs: 3:1.

In den Cafes und Restaurants rund um den Alex findet man sie wieder - die Wessis. Unter den jüngeren herrscht Urlaubsfieber wie in überfüllten Interrailzügen im Sommer. Aber zumindest in der „Espresso-Milchbar“ werden sie die DDR -Gastronomie nicht in die Knie zwingen. „Mit Nachschub haben wir kein Problem“, versichert eine Bedienung, die gerade vier Teller mit Zitronentorte und Baumkuchen serviert, zuversichtlich.

Restaurants und Buchläden sind im Osten von den Besuchern aus den drei Westzonen unwiderruflich entdeckt. Nur Friseure scheinen noch eine Galgenfrist zu haben. „Wir haben bisher unsere Stammkunden aus dem Westen“, stellt der Chef eines Friseursalons in der Karl-Liebknecht-Straße fest. „Aber wir haben schon Angst“, sagt er ehrlich. Ein Haarschnitt, der den Friseur eine dreiviertel Stunde in Anspruch nimmt, kostet lächerliche 1,80 Mark. „Wenn Kunden anfangen, den Angestellten die Arbeit in Westgeld zu bezahlen, kommen dann noch unsere alten Kunden an die Reihe?“

Dirk Wildt

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