: DIE BERLINER OLYMPIADE 1936
■ Ein Essay über die Spiele der Gewalt von Gunter Gebauer und Christoph Wulf
Selten hat es in Berlin ein so perfekt inszeniertes Ereignis wie diese Olympiade gegeben. Die Inszenierung eines Gesamtkunstwerks, das den Mythos, die Architektur, die Wettkämpfe, die Zuschauer und die Medien vollständig einbezog.
Innerhalb von drei Jahren wurden auf persönliches Geheiß Hitlers das Olympiastadion und die olympische Anlage errichtet. Leni Riefenstahl erhielt den Auftrag, einen zweiteiligen Film über die Spiele zu drehen: Olympia: Fest der Völker und Olympia: Fest der Schönheit, mit dem ihr eine perfekte Inszenierung des Mythos dieser Spiele gelang. Das Internationale Organisationskomitee der Olympischen Spiele wurde im Sinne der Selbstinszenierung des faschistischen Staates funktionalisiert und sah hilflos zu, wie die olympischen Symbole vom Faschismus überlagert und besetzt wurden. Die Spiele wurden zu einer großen, internationale Anerkennung erheischenden Inszenierung deutscher Organisationsfähigkeit und deutschen Kampfgeistes. In ihrem Rahmen verloren die sportlichen Leistungen ihren Selbstwert; sie dienten der Selbstinszenierung des Faschismus. Die Zuschauer an den Straßen, auf den Plätzen und im Olympiastadion hatten die Aufgabe, das Überragende des Ereignisses zu bezeugen. Mit dieser Funktion traten sie auch in der Berichterstattung über die Olympischen Spiele in Erscheinung, die für die Verbreitung des Mythos dieser Spiele in alle Welt so wesentlich waren. Stellvertretend für alle, die nicht dabei sein konnten, bekundeten die so funktionalisierten Zuschauer die überhistorische Bedeutung des Ereignisses. Vielleicht fand hier zum ersten Mal das intensivere Ereignis in den Medienberichten über die Olympiade statt. Mit der ersten simultanen Übertragung der Spiele auf die Fernsehapparate in den Berliner Fernsehstuben begann das Zeitalter der Telekommunikation mit den Mythen der Gleichzeitigkeit und Authentizität.
Wenn der Besucher des Berliner Olympiastadions über endlos weite Steinplatten geeilt ist, den Eingang des olympischen Bezirks zwischen zwei scharf in die Höhe steigenden Festungstürmen durchquert hat, vor dem ungeheuren Rundbau aus grob behauenem Stein und der schweren Mauerkrone angekommen und durch die dunkle Öffnung zwischen den quaderförmigen Säulen geschritten ist, gibt es einen Augenblick, der ihn unweigerlich in den Bann schlägt. Er findet sich in einem gewaltigen Innenraum wieder, der sich weit hinunter in die Tiefe ausdehnt und nach oben in den Himmel aufsteigt, inmitten eines Rundes, das in seiner Geschlossenheit, Einsamkeit und Tiefe nichts anderes gelten läßt als das, was sich in ihm abspielt: unten auf dem Rasen und der Laufbahn, in der Mitte des Stadions auf den wuchtig vorgeschobenen Steinquadern der Führerloge und auch überall auf den Rängen.
Die Autorität des Stadions läßt alles zum Theater werden, das seinerseits hier keine andere Form annehmen kann als die des Dramas und die Lust der Zuschauer, darin zu verschmelzen. Nirgendwo wird begreifbarer, daß der Sport den Charakter einer eigenen Welt für sich beansprucht. Was immer man davon halten mag, sein Eigensinn läßt sich an dieser Stelle nicht leugnen. Die Weite, das Geordnete, die Steinmassen, der tiefe Einschnitt des Marathontores mit der feierlichen Treppe, dann weit hinten, jenseits des Maifeldes, der Glockenturm; alles stellt eine Weihe her, unterdrückt das Alltägliche und befiehlt dem Besucher eine Sammlung seiner Gefühle.
Kein ort wilder Feste, hier kann nichts brennen - nur die Flamme in der Opferschale; es ist ein Ort gigantischer Feiern. Wenn er leer ist, kann noch niemand wissen, für welchen höheren Anlaß die Feiern aufbrechen sollen; wenn er gefüllt ist, hat die Erwartung eines Festes etwas eher Erschreckendes.
Die Zuschauer strömen hinein, Massen in sorgfältig gelenktem Fließen. Alle sitzen, keiner muß stehen; das Stadion braucht Musik, die gesammelte Erregung größter Ereignisse, der allergrößten; es verlangt die Superlative: Das Mittelmäßige erfährt hier ein gnadenloses Schicksal, es stürzt ab. Halbleer verliert der Ort seine Wärme; er verlangt die Mobilisierung der Massen, die pralle Fülle von Menschen und Ereignissen. Als disziplinierte Reihen, von oben nach unten, von den Kurven zu den Graden geordnet, sitzen die Zuschauer in Reih und Glied.
Hitler ließ sich mit dem Wagen von der Heerstraße aus an den Südeingang, das „Königsportal“, heranfahren, betrat dann aber das Stadion durch einen unterirdischen Gang; unversehens tauchte er in seiner Loge auf, er war auf einmal da, unter seinem Volk, ein als Volksgenosse verkleideter Deus ex machina, einzigartig hervorgehoben im architektonischen Zentrum des Runds.
Wie bei jedem echten Schauspiel sitzen zuerst die Zuschauer, dann kommen die Schauspieler, einzeln oder in kleinen Gruppen. 1936 sind es keine Individuen, die hereintreten, sondern Kolonnen unterschiedlicher Stärke, abgestuft nach der sportlichen Leistungshöhe: Gewaltige Züge im Marschschritt bilden die Großmächte des Sports; kleine energisch marschierende Gruppen die sportlichen Kleinstaaten. Der Innenraum füllt sich: Japan, Italien, Österreich, die USA, Frankreich - der Höhepunkt kommt auch hier zum Schluß: das deutsche Reich, das wiedergeborene Deutschland, die Mannschaft, die sich als die weitaus stärkste, erfolgreichste erweisen würde, eine stählerne Säule, von einem Willen beseelt, in einem unglaublich ruhigen, maschinenhaft gleichmäßigen Tritt, Menschen in Weiß, ein Wunder an Erneuerung eines geschlagenen, von schwersten Krisen heimgesuchten Landes.
Dies ist die Szenerie eines Weihespiels, einer Wagner-Oper und eines Turnfestes zugleich; eine solche Szenerie kann nur mit einem Schwur oder Beethovens Neunter enden. Das Menschenmeer verdoppelt sich in ein Fahnenmeer, das Feuer flackert in der Opferschale: Der zerstückelte Pelops wird wie im Gründungsmythos des antiken Olympia wieder zusammengesetzt. Aber der antike Mythos und die griechischen Rituale werden von der neuen Flamme dieses Lands verzehrt, das Totenopfer ruft neuen Tod herbei; dies ist die Umkehrung der olympischen Botschaft, die vom „Führertum“ und der Langemarckhalle ausgesandt wird. Der wiedergeborene Pelops wird insgeheim auf sein Sterben vorbereitet.
Die Nacht verzaubert das Stadion und vereinigt es mit dem Himmel; sein Raum wird unendlich. Die großen Gefühle in Deutschland werden durch das technische Mittel der Flakscheinwerfer, die einen „Lichtdom“ bilden, auf das Höhere gerichtet. Die Jugend des Volkes wird aufgefordert, sich in der Nacht ihren Selbstausdruck zu suchen im Opfer ihres Lebens für das Höchste, was in diesem Rund denkbar ist: für die Volksgemeinschaft.
Die sportlichen Leistungen, so ausgezeichnet sie sind, vermögen in dieser Arena keinen Selbstwert zu erlangen. Die einzelne hohe Leistung, der Rekord, wird in den Rang des Wunders gestuft; sie wird vom Publikum herbeigesehnt wie die Heilung eines Unheilbaren. Aber wie das religiöse Wunder gehört sie nicht dem Athleten; sie bleibt nichts anderes als Zeichen der Macht, die von ihr profitiert, die ihr die Vieldeutigkeit des individuellen Willens nimmt, die Egozentrik der Ziele, die der Athlet mit ihr verfolgte. Sie werden Tribute, darzubringen immer auf demselben Altar, immer als Weihehandlungen. Die Auslöschung des Individuellen funktioniert nicht vollständig, denn sportliche Leistungen sind rebellische Materie.
Alle Zeichen, auch die sportlichen Gesten, sind im Raum des Stadions doppeldeutig: Der friedliche Kampf, der hier beschworen wird, verwandelt sich später in den wahren; die Tauben, die aufsteigend den Frieden verkünden sollen, fliegen heim in die Taubenställe des deutschen Heeres; der Gruß der französischen Mannschaft im olympischen Geist wird als Gruß an Hitler interpretiert; die Initiation, zu der die Jugend der Welt gerufen wird, weiht sie letztlich nicht dem Leben, sondern dem Tod. Das Fest der schönen Körper bereitet das Tribunal gegen die Untüchtigen vor. Berlin träumt seinen Traum von Olympia, wo alles ganz ähnlich ist wie am antiken Ort, aber doch ganz anders, letztlich eine christlich inspirierte Umkehrung eines griechischen Festagons. War schon Preußen nicht Athen, so ist Hitlers Berlin noch weniger Olympia.
Es ist schwer, sich von dem Eindruck dieses Stadions freizumachen. Berlin hat damit ein ganz intaktes Stück seiner Vergangenheit, ein Zeugnis seiner alten Größe ohne Narben, alle Wettkampfstätten sind vollständig erhalten. Das Aufmarschfeld und einige andere Prachtstücke reserviert sich der englische Alliierte. Ihren Respekt vor der Inszenierung der Spiele von 1936 bezeugen viele, auch scharfe Kritiker. Die Reinheit und Unschuld der Teilnehmer mag echt gewesen sein. Dann aber paßten sie noch besser in das Konzept der Veranstaltung; je reiner, je unschuldiger, je jünger die Sportler und Zuschauer, desto besser funktionierte die Inszenierung und desto größer war die Glaubwürdigkeit. Fatal ist die Bereitwilligkeit, mit der sich der olympische Sport inszenieren läßt; aber auch begreiflich: Da er über ein offen interpretierbares inszenatorisches Konzept verfügt, ist er letztlich der Ästhetik des Veranstalter-Staates ausgeliefert. Er wird sogar zu einer der Stützen der Staatsästhetik; in totalitären Staaten ist dies seine Hauptaufgabe.
Mehr noch in seiner ästhetischen Funktion als im Nachweis hoher Leistungsfähigkeit liegt seine wesentliche Aufgabe für die Herrschaftssicherung. Die Ästhetik des Staates entfaltet Macht über die Körper: Die Athleten sind ihr vollendeter Ausdruck, die Disziplin und der Enthusiasmus der Massen ihr eindrucksvollster Beweis von deren Zustimmung. Überall, wo die staatliche Macht um Einverständnis buhlt, lockt sie mit ästhetischen Formen, mit dem von ihr bestimmten Schönen. Der Sport paßt bruchlos in ihre alten Muster wie die der Gemeinschaft, der Wiedergeburt und der Gewalt.
Der Olympismus hat dem Hitler-Staat mehrere interessante Angebote zu machen: Die Macht verlangt die Tüchtigkeit der Körper; alles andere gilt ihr als minderwertig. Die Berliner Spiele werden so inszeniert, daß die besten Körper überhaupt angetreten sind, um die Verpflichtungen, die ihnen der Staat gesetzt hat, zu erfüllen. Weiterhin verfügt der olympische Sport über das größte und verführerischste Theater, das es gibt, das Stadion. Es ist zu einer Bestimmten Stunde Tag für Tag mit 100.000 Zuschauern gefüllt. Es gibt der fließenden, unsteten Masse eine feste Form: ein flüssiger Ring in einer kolossalen Steinfassung, geschlossen unter freiem Himmel, voller Wärme und Emotionen. Schließlich verwandelt der Olympismus seine Räume in heilige. Der Nationalsozialismus sucht heilige Räume überall; anderswo muß er sie erst künstlich schaffen unter Eichen, in Ehrenmalen und Weihehallen. Olympische Spiele erzeugen eine traumhafte Wirklichkeit, eine Welt der Magie, die sich zuletzt mühelos ins wundergläubige Kalifornien transportieren ließ. Die NS -Stimmungsarchitektur nahm die Kinobauten als Stilvorbild, die Spiele von Berlin und Los Angeles als Kinoheldentum. Die Inszenierung der Spiele öffnet den Himmel; in Berlin senkt sich Walhalla über die olympischen Götter, die Magical Mystery Tour von Los Angeles verzaubert das Stadion in ein Disneyland.
Der Sport ist ein phantastisches System der freiwilligen Unterordnung. Er wirkt durch das Konzept der Normalität, der Normkörper, das er ausbreitet und das ihm von immer mehr Menschen geglaubt wird. Er richtet sich, ohne es ausdrücklich zu wollen, gegen die untüchtigen Körper. Sein Zauberwort heißt: Erziehung der Körper gegen die Dekadenz der Zeit; das ist sein Reformprojekt. Coubertin sah „mit großem Vergnügen“, daß sich Deutschland und Italien auf den Boden einer solchen Erziehungsreform gestellt hatten, „die allein zu der letzten Verwirklichung des von ihm erstrebten sportlichen Erziehungsziels führen könne“. Nach den Olympischen Spielen spricht er begeistert davon, sie seien „von hitlerischer Kraft und Disziplin illuminiert worden“.
Heute hat man sich in Deutschland auf die Formel geeinigt, die Berliner Spiele seien politisch ausgenutzt worden. Dieses Urteil ist blind für die ästhetischen, rituellen und mythologisierenden Zusammenhänge zwischen Olympismus, modernem Sport und dem Nationalsozialismus. Es übersieht die Rolle der Gewalt in der Inszenierung des sportlichen Völkerwettkampfes. Die Macht hat auf dem Wege der ästhetischen Inszenierung die Spiele ergriffen: „Der totalitäre Staat wird durch Schönheit maskiert“ (Enquist). Wie andere Gesamtkunstwerke auch, tendiert das der Olympischen Spiele zu einer Allianz mit dem Faschismus.
Die Inszenierung der Spiele wird überhöht durch den das Ereignis für die Erinnerung und die Zukunft noch einmal inszenierenden Film Leni Riefenstahls. Die Botschaft ihres Films: Die Olympiade in Berlin ist ein mythisches Ereignis, in dem die griechische Antike und die deutsche Gegenwart eine grandiose Verbindung eingehen.
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