„Vichy - Auschwitz“ Eine historische Ortsbestimmung

■ Serge Klarsfeld zeichnet die Kooperation französischer Behörden mit den Nazis nach / Verantwortliche beim Namen genannt / Auch hier vorauseilender Gehorsam / Wichtige deutsche Dokumente erstmals ins Französische übersetzt / Eine Publikation gegen die Verdrängung

Fast sechshundert Seiten lang wird hier ein Verbrechen beschrieben, analysiert und dokumentiert. Und doch enthüllt sich dem nachgeborenen Leser der ganze Schrecken der Vergangenheit erst auf den allerletzten drei Seiten, dort nämlich, wo er in die Gegenwart greift: „Rene Bousquet“ heißt es in den biographischen Notizen zu einem der Hauptverantwortlichen der Judendeportationen, „nach 1945 festgenommen und am 23.Juli 1949 zu fünf Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt; anschließend Generaldirektor der Indochina-Bank. Aufsichtsrat der Indo -Suez-Bank und Direktor zahlreicher mit dieser Bank verbundener Gesellschaften.“

Wer den langen Weg der Beweisführung des Pariser Rechtsanwalts Serge Klarsfeld in „Vichy - Auschwitz“ mitgegangen ist und erfahren hat, wie Bousquet, jener Prototyp des brillanten Administrators, sich an entscheidenden Punkten schuldig gemacht hat, der wird die alte Vermutung nur bestätigen können, daß Eliten zur Opferrolle schlecht, zu Tätern aber sehr wohl taugen.

„Vichy - Auschwitz“ - Klarsfeld stellt zwei Orte in unmittelbare Nachbarschaft, die auf der politischen Landkarte vieler Franzosen sehr weit voneinander entfernt angesiedelt sind. Eine fällige Ortsbestimmung. Noch immer erscheint vielen Franzosen das autoritär-faschistische Regime des Marschall Petains als das gegenüber einer deutschen Okkupation ganz Frankreichs kleinere Übel, als eine bittere, aber wohl unvermeidliche Zeit, die man am allerbesten ganz aus Frankreichs Geschichte streichen sollte. Der Mythos de Gaulle hat entscheidend zum kollektiven Nicht-Erinnern beigetragen. Eine Figur, die Armee und Resistance, Nation und Republik verkörperte und mit seinem Satz von 1944: „Die Republik hat niemals aufgehört zu existieren“ den Grundstein zur Amnäsie legte. Noch bis zum Schuljahr 1983/84 verschwiegen beispielsweise die historischen Schulbücher, daß die Mehrzahl der deportierten Juden durch die reguläre französische Polizei verhaftet wurde.

Post mortem

schuldig gesprochen

Klarsfelds Bericht ist gegen dieses Vergessen geschrieben. Es ist eine minutiöse Darlegung von Schuld, die ebenso wie die 1978 erschienene Dokumentation „Le Memorial de la Deportation des Juifs de France“ aus der politisch -juristischen Aktion heraus entstand: „Vichy-Auschwitz“ ist eine Anklageschrift gegen fünf Personen, „die einzigen, die die volle Verantwortung für die Maßnahmen gegen die Juden trugen (...): Staatschef Petain, Regierungschef Laval, Bousquet, der Polizeichef der Vichy-Regierung, Leguay, Delegierter Bousquets in der besetzten Zone, und Darquier, der Generalkommissar für Judenfragen“ (S. 12).

Jean Leguay ist am 2.Juli 1989 gestorben. Die Pariser Staatsanwaltschaft sprach ihn am 11.September dieses Jahres post mortem der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schuldig. Zwei Tage später reichte Serge Klarsfeld Klage gegen Rene Bousquet ein - die letzte Chance, daß es noch zu einem Prozeß gegen das Kollaborationsregime kommen wird.

Im Frühjahr 1942 liegt die oberste Gewalt im besetzten Nordteil Frankreichs beim deutschen Militärbefehlshaber. Seine Anordnungen werden durchgängig von der bestehenden französischen Verwaltung durchgeführt. Gleichzeitig - und in dieser Dualität kann sich die Selbstlüge der Kollaboration erst entwickeln - verkörpert die Vichy-Regierung „die souveräne Gewalt für ganz Frankreich“ (S. 21).

Das Kalkül von Petain und Laval besteht darin, durch Kollaboration mit der Reichsregierung die noch bestehende Autorität des französischen Staates auf dem gesamten Territorium nicht zu gefährden und noch weiter auszubauen. Im Interesse der Reichsregierung liegt es andererseits, möglichst wenig Militär in Frankreich zu stationieren. Ein gehorsamer Knecht ist, das wissen auch die Nazis, effizienter als ein Sklave.

Servile Beamte: Teil der Vernichtungsmaschinerie

Am 20.September 1940 hat Reinhard Heydrich vom Auswärtigen Amt Maßnahmen gegen die Juden in Frankreich verlangt. Der Sicherheitspolizei/Sicherheitsdienst soll die oberste Verantwortlichkeit übertragen werden. Klarsfeld zitiert SS -Sturmbannführer Lischka, den ständigen Vertreter der Sipo -SD in Frankreich: „Die weiteren Dinge müßten den Franzosen überlassen bleiben, um die Reaktion des französischen Volkes gegen alles, was von den Deutschen kommt, auf diesem Gebiet (der „Endlösung“, d.A.) auszuschalten; die deutschen Stellen hätten sich also nach Möglichkeit nur auf Anregungen zu beschränken.“ (S. 22)

An der Judenpolitik des Vichy-Regimes demonstriert Klarsfeld, wie rasch sich die Kollaboration als „kleineres Übel“ verselbständigte und wie schnell „Tauschgeschäfte“ mit einem Partner wie Nazideutschland zur völligen Selbstaufgabe wurden: Vichys servile Beamten wurden „zum integralen Bestandteil einer unerbittlichen Vernichtungsmaschinerie“ (S. 128), resümiert Klarsfeld. Eine Vernichtungsmaschinerie, die zwischen dem 27.März 1942 und dem 12.August 1944 75.721 Juden in die Vernichtungslager brachte - ein Viertel der damals in Frankreich lebenden Juden.

Als die ersten Razzien 1941 in Paris noch auf Anordnung des deutschen Militärbefehlshabers unter Mithilfe der französischen Polizei durchgeführt werden, beschränkt sich der Protest der Vichy-Regierung auf die Klage, nicht vorher konsultiert worden zu sein.

Pars pro toto des Räderwerks der Kollaboration und gleichzeitig Schlüsselfigur von „Vichy - Auschwitz“ ist Rene Bousquet, Sohn eines honorigen Notars aus Montauban, Junganwalt und bereits mit 23 Jahren Kabinettschef des Innenministers. Am 18.April 1942 wird dieser gewandte, allseitig gebildete Modell-Beamte zum Polizeiminister Lavals ernannt. Als „entschiedenem Gegner des Kommunismus und national denkendem Franzosen“ (Heydrichs) geht es Bousquet darum, „die Autorität des französischen Staates und seiner Polizei auf dem gesamten französischen Territorium wiederherzustellen - um den Preis der Bekämpfung der gemeinsamen Gegner des Reiches und Vichys, insbesondere der Kommunisten und der staatenlosen Juden“ (S. 51).

Der Preis, den Bousquet und Laval zu zahlen bereit sind: die Massenverhaftungen von Juden in der besetzten Zone, wie Himmler verlangt hatte - durch französische Polizeitruppen.

Ein Fall präventiver Kooperation

Am 6.Mai 1942 treffen Heydrich und Bousquet zusammen. Bousquet erreicht, daß die französische Polizei in Zukunft nur auf Befehl des französischen Polizeichefs, also Bousquets selbst, vorgehen wird. „Heydrich ging von seinen Erfahrungen in der Tschechoslowakei aus und folgerte, daß eine weitgehende Selbständigkeit der Polizei und Verwaltung zu besseren Ergebnissen führen würde“, gab später der Höhere SS- und Polizeiführer in Frankreich, Karl Oberg, zu Protokoll (zit. auf S. 55). Wie „standhaft“ Bousquet in diesen Verhandlungen gewesen ist, zeigt eine Notiz des ebenfalls anwesenden deutschen Generalkonsuls Schleier: Heydrich erwähnte, „daß demnächst Transportzüge zur Verfügung stehen würden, um staatenlose Juden aus dem Besetzten Gebiet, die im KZ Drancy untergebracht waren, in den Osten zwecks Arbeitseinsatzes abzutransportieren. Bousquet fragte daraufhin Heydrich, ob nicht auch die über eineinhalb Jahre im unbesetzten Gebiet internierten Juden mit abtransportiert werden könnten.“ (S. 57) Ein Fall präventiver Kooperation.

Gegenüber den ausländischen Juden war die Vichy-Regierung bereits seit Anfang Oktober 1940 mit aller Härte vorgegangen, ohne daß sie von den Deutschen dazu gezwungen worden wäre, nämlich mit Aberkennung der Staatsbürgerschaft und willkürlicher Internierung in Sonderlagern. Die französischen Juden sollten zwar enteignet und zu Bürgern zweiter Klasse gemacht, jedoch nicht deportiert werden. Im Juli 1942 erklären sich Laval und Petain bereit, von der französischen Polizei in der besetzten und der freien Zone je 10.000 Juden verhaften bzw. deportieren zu lassen allerdings nur ausländische Juden, „dem Abschaum, den die Deutschen selbst ausgewiesen haben“, wie Laval sich im Ministerrat äußerte. Die Lüge des „als ob“: Frankreich handelt wie ein souveräner Staat auf dem ganzen Territorium

-aber nur, weil es die von den Nazis gewünschte Politik übereifrig verfolgt.

Vichy hätte durchaus

anders auftreten können

Dabei habe Vichy, so Klarsfeld, durchaus anders auftreten können. Vom Tauschhandel - Lieferung der geforderten Anzahl von Juden gegen den zeitweiligen Ausschluß französischer Juden von den Deportationsmaßnahmen - könne keine Rede sein: „Der mögliche Verhandlungsspielraum war viel größer, als die verantworlichen Vichy-Politiker im allgemeinen annahmen. Dies beweist das Ausbleiben irgendwelcher deutscher Vergeltungsmaßnahmen für die zweimalige Absage des Vichy -Regimes an die SS, als es im September 1942 um die Zusammenstellung von 45 Zügen mit jeweils 1.000 Juden pro Tag und im August 1943 um den Erlaß des Ausbürgerungsgesetzes ging, der zur Deportation von annähernd 50.000 Juden geführt hatte“ (S. 329). Auch der latente Antisemitismus von Polizei und Verwaltung hätte „keinen aktiven Ausdruck gefunden, wenn nicht die Regierung die Nazipläne unterstützt hätte“ (S. 103).

Am 16. und 17.Juli sowie am 26.August 1942 finden die großen Razzien statt. Ein „erheblicher Teil“ der Juden wurde - auch dies geschah - von der Polizei gewarnt und konnte sich verstecken. Die Berichte der Präfekten sprechen fast ausnahmslos von der heftigen Reaktion der französischen Bevölkerung auf die brutalen Festnahmen, und die Teilnahme der französischen Polizei an den Aktionen wurde als Unterwerfung Vichys unter die Deutschen verstanden. Besonders die Trennung der Kinder von ihren Eltern empörte die Öffentlichkeit. Jean Leguay, der Delegierte Bousquets in der besetzten Zone, setzt daraufhin kurzerhand auch die Deportation der Kinder durch - eben jener Leguay, der später wieder in den Präfektenstand aufgenommen und erst am 11.September 1989 post mortem des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ überführt werden sollte.Unter dem Druck der Öffentlichkeit und des hohen Klerus, der eine der Stützen der „Nationalen Revolution“ Petains darstellte, ändert Laval Anfang September 1942 seine Politik: Unter ausdrücklichem Verweis auf den Widerstand der Geistlichkeit bittet er den Vertreter Himmlers in Frankreich, „zur Zeit keine neuen Forderungen auf dem Gebiet der Judenfrage zu stellen“ (S.165).

Für ausländische

Juden zu spät

Es ist für die ambivalente Haltung der Okkupationsmacht charakteristisch, daß der Höhere SS- und Polizeiführer Karl Röthke und der SD-Befehlshaber Helmut Knochen „für diesen Standpunkt absolutes Verständnis“ äußerten, während Eichmanns Vertreter in Frankreich und Leiter des Judenreferats, Heinz Röthke, Vichy unter stärkeren Druck setzen möchte, auch auf die Gefahr, dadurch die Kollaborationsregierung in Frankreich zu schwächen. Obergs und Knochens Position setzt sich durch, und Himmler entscheidet, daß zunächst keine Juden französischer Staatsangehörigkeit festgenommen werden sollen. Für die ausländischen Juden in Frankreich ist es da bereits zu spät.

„Vichy - Auschwitz“ ist die Geschichte eines Versagens und einer Schuld. Es ist ein Buch, das von einem Franzosen für die Franzosen geschrieben wurde und, gespickt mit erstmals ins Französische übersetzten Dokumenten, Täter und Opfer beim Namen nennt.

In dem „Aber“ liegt der Unterschied

Aber es ist auch - und das ist für den deutschen Leser wichtig - ein Buch, das an keiner Stelle vergißt, wer die Situation geschaffen hat, in der Feigheit und Kollaboration erst entstehen konnten. Klarsfeld schließt seine Anklage mit dem Satz: „Die Juden in Frankreich werden immer in Erinnerung behalten, daß zwar das Vichy-Regime einen moralischen Bankrott erlitten und sich entehrt hat, indem es entscheidend zur Vernichtung eines Viertels der jüdischen Bevölkerung in diesem Land beitrug, daß aber die übrigen drei Viertel ihr Überleben wesentlich dem aufrechten Mitgefühl aller Franzosen verdanken, die von dem Augenblick an ihre praktische Solidarität bewiesen, als sie begriffen, daß die jüdischen Familien, die den Deutschen in die Hände fielen, zum Tode verurteilt waren“ (S. 329). In diesem „aber“ liegt der ganze Unterschied.

Alexander Smoltczyk

Serge Klarsfeld: Vichy - Auschwitz . Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich.

Greno-Verlag, Nördlingen 1989, 600 Seiten

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