Die Kehrtwende der Geschichte

Jean Baudrillard über den Untergang der Freiheit im politischen Treibhauseffekt  ■ D O K U M E N T A T I O N

Das Ende des Jahrhunderts hat angefangen. Und es läuft als Ereignis ab. Allgemeines Aufatmen bei dem Gedanken, daß die Geschichte, die eine Weile unter dem Druck totalitärer Ideologie erstickt lag, mit der Aufhebung der Blockade im Osten wieder in Gang kommt. Endlich ist das Feld der Geschichte wieder für die unvorhersehbaren Bewegungen der Völker und ihren Freiheitsdurst freigegeben. Im Gegensatz zur depressiven Mythologie, die sonst das Ende von Jahrhunderten begleitet, scheint diesmal das Jahrhundertende den finalen Prozeß mit einem spektakulären Wiederaufflammen einzuleiten, einer neuen Hoffnung und Erhöhung aller Spieleinsätze. Schluß mit den pessimistischen Vorhersagen vom Ende der Geschichte! Wie kann man die Realität und Lebendigkeit der Geschichte bezweifeln wollen angesichts dessen, was sich gerade vor unseren Augen abspielt?

Aus der Nähe sieht das Ereignis ein wenig rätselhafter aus. Es gleicht eher einem unidentifizierbaren, „geschichtlichen“ Objekt. Dieses Auftauen der Länder im Osten, dieses Auftauen der Freiheit ist zweifellos eine überraschende Wendung. Aber was wird aus der Freiheit, wenn sie aufgetaut ist? Es ist ein gefährliches Unternehmen mit zweideutigem Ergebnis. Die UdSSR und die Länder im Osten funktionierten nach dem Modell 'Kühltruhe‘: Sie waren Testfall und Versuchsmilieu für die Freiheit, die eingeschlossen und unter Hochdruck gestellt wurde. Der Westen dagegen ist nur Verwahranstalt, oder besser: Deponie für Freiheit und Menschenrechte. Wenn Tiefkühlgefrierung das Negativ- und Unterscheidungsmerkmal der östlichen Welt war, so ist unsere westliche Welt durch den Zustand absoluter Verflüssigung gekennzeichnet. Das aber ist noch prekärer. Hier kann man nämlich aufgrund der Liberalisierung der Sitten und der Ansichten die Frage nach der Freiheit schlicht und einfach nicht mehr stellen.

Das Erregende an dem gegenwärtigen Prozeß in den Ostblockländern ist sicher nicht, wie sie sich brav an eine Demokratie anschließen, die auf dem Wege der Besserung ist, weil die Ostblockländer ihr ständig frische Energie (und neue Märkte) zuführen. Erregend ist vielmehr, wie zwei verschiedenen Arten, Geschichte zu beenden, aufeinanderprallen: das Ende durch Frost, in den Konzentrationslagern, und das Ende in der totalen und zentrifugalen Ausdehnung der Kommunikation. In beiden Fällen eine Endlösung. Dieses Auftauen des Ostens kann auf Dauer so verhängnisvoll für uns sein wie zuviel Kohlendioxid in den oberen Schichten der Atmosphäre. Es kann einen politischen Treibhauseffekt verursachen. Die menschlichen Verhältnisse auf dem Planeten könnten sich durch Schmelzen der kommunistischen Eisberge derart erwärmen, daß die westlichen Ufer davon überschwemmt werden. Paradoxerweise fürchten wir klimatisch das Schmelzen des Eises und der Eisberge als absolute Katastrophe, während es politisch, demokratisch gesehen geradezu unser höchstes Ziel ist.

Wenn die UdSSR in früheren Zeiten ihren Goldvorrat auf den Weltmarkt geworfen hätte, wäre dieser vollständig destabilisiert worden. Wenn die Ostblockländer nun den ungeheuren Vorrat an Freiheit, den sie in der Kälte konserviert haben, wieder in Umlauf bringen, werden sie auch da den sehr empfindlichen Stoffwechsel der westlichen Werte destabilisieren. Er basiert darauf, daß die Freiheit hier nicht mehr tatsächlich auftritt, sondern nur noch als mögliche Freiheit und interaktiver Konsens erscheint, nicht mehr als Drama, sondern als allgemeines Psychodrama des Liberalismus. So eine plötzliche Freiheitsspritze, als gäbe es dabei ein reales Tauschverhältnis, eine gewaltsame und aktive Form der Transzendenz, eine Idee - das wäre für unser Modell wohltemperierter Umverteilung der Werte in jeder Hinsicht katastrophal. Trotzdem verlangen wir vom Osten genau dies: die Freiheit, das Bild der Freiheit, im Austausch gegen die materiellen Zeichen der Freiheit. Ein perfekter Teufelspakt, in dem die einen Gefahr laufen, ihre Seele zu verlieren, und die anderen ihren Komfort.

Was bedeutet Glasnost? Die rückwirkende Durchsichtigkeit aller Zeichen der Modernität, beschleunigt und aus zweiter Hand (es ist fast ein postmodernes remake unserer Originalversion der Moderne), die Sichtbarkeit aller positiven und negativen Zeichen durcheinandergemischt, das heißt nicht nur der Menschenrechte, sondern auch der Verbrechen, der Katastrophen, der Unfälle, deren frischfröhliches Anwachsen man in der UdSSR seit der Liberalisierung feststellen kann. Und das ist eine gute Lektion in Sachen Demokratie. Denn hier sehen wir alles, was wir sind, wieder auftauchen, alle angeblich allgemeinen Attribute des Menschlichen erscheinen uns hier in einer Art Halluzination von Idealen und Wiederkehr des Verdrängten, einschließlich dem Schlimmsten, Banalsten, Abgelatschtesten, was es in der westlichen „Kultur“ gibt, und um dessentwillen es ab jetzt keine Grenzen mehr geben wird. Damit ist für diese Kultur die Stunde der Wahrheit gekommen, die schon einmal geschlagen hat: bei der Auseinandersetzung mit den Kulturen der Wilden (und man kann nicht gerade sagen, daß sie sich da besonders gut aus der Affäre gezogen hätte). Das Ironische an der Sache ist, daß wir es vielleicht eines Tages sind, die gezwungen sein werden, das geschichtliche Gedächtnis des Stalinismus zu retten, während die Länder im Osten sich schon gar nicht mehr daran erinnern.

Die Moralapostel, die dem Ende der Geschichte feindlich gegenüberstehen, sollten sich einmal Gedanken darüber machen, welche Wendung denn die Geschichte aufgrund der aktuellen Ereignisse nimmt. Sie geht nicht nur auf ihr Ende zu (das noch Teil des linearen Phantasmas der Geschichte war), sondern macht eine Kehrtwendung, bis hin zur systematischen Auslöschung. Wir sind drauf und dran, das ganze 20. Jahrhundert zu löschen, nacheinander alle Zeichen des kalten Krieges zu löschen, vielleicht sogar alle Zeichen des Zweiten Weltkrieges und auch die Zeichen aller politischen und ideologischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Die Wiedervereinigung Deutschlands und eine ganze Menge anderer Dinge sind unausweichlich, nicht im Sinne eines Sprungs der Geschichte nach vorn, sondern weil das 20. Jahrhundert noch einmal neu geschrieben werden wird, aber verkehrt rum. Das wird gut die letzten zehn Jahre bis zum Ende des Jahrhunderts in Anspruch nehmen. Und in dem Tempo, mit dem wir daran gehen, werden wir bald beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angekommen sein. Da haben wir sie vielleicht, die Erleuchtung dieses Fin de siecle, den wirklichen Sinn der umstrittenen Formel vom Ende der Geschichte. In einer Art begeisterter Trauerarbeit verputzen wir alle markanten Ereignisse dieses Jahrhunderts neu, bereinigen sie, als wäre alles, was sich in diesem Jahrhundert ereignet hat - die Revolutionen, die Teilung der Welt, die Lager, die gewaltsame Übernationalität der Staaten, die nukleare Spannung, kurz die Geschichte in der Phase ihrer Modernität -, als wäre das alles nur ein auswegloser Knäuel; als hätte die ganze Welt sich daran gemacht, diese Geschichte mit der gleichen Begeisterung wieder zu entknoten, mit der sie sie zustande gebracht hat. Es scheint, daß alle Zeichen erkämpfter Befreiungen seit einem Jahrhundert schwächer werden, und vielleicht werden sie schließlich eins nach dem anderen ganz verlöschen: Wir stehen in einem gewaltigen Prozeß des Revisionismus. Nicht eines ideologischen Revisionismus, sondern eines Revisionismus der Geschichte selbst. Und wir haben es anscheinend eilig, vor dem Ende des Jahrhunderts dort anzukommen. In der geheimen Hoffnung vielleicht, mit einem neuen Jahrtausend bei Null wieder anfangen zu können? Aber vor welchem Zeitpunkt? Vor dem 20. Jahrhundert? Vor der Revolution? Bis wohin kann uns dieses Aufsaugen der Geschichte, dieser neue Verputz führen? Das kann sehr schnell gehen (wie die Ereignisse im Osten zeigen), gerade, weil es sich nicht um einen Aufbau, sondern um einen massiven Abbau der Geschichte handelt, der sich wie ein Virus und eine Epidemie ausbreitet. Wird schließlich das Jahr 2000 vielleicht gar nicht stattfinden (wie wir es früher schon einmal vorgeschlagen haben), ganz einfach, weil die Krümmung der Geschichte so sehr in die entgegengesetzte Richtung zurückgebogen sein wird, daß sie diesen Zeithorizont niemals überschreitet?

Gekürzt aus Liberation, 15.12.89