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■ Faschismus, Antifaschismus und ein Wannenbad

Gabriele Goettle

Ankunft in Dresden bei Einbruch der Dämmerung, 22. November. Die Fahrt auf der Autobahn war ein Alptraum, sie erinnerte sehr an den Film Weekend von Godard. Rechts und links der Fahrbahn lagen umgekippte Lastwagen, halbverschneite PKWs. Weit und breit kein Streufahrzeug auf der ganzen Strecke.

Vor dem „Haus der Volkspolizei“ steht ein riesiger Parkplatz leer. Von gegenüber schimmert durch den Nebel eine rote Neonreklame von „Robotron“. Für Dresden haben wir keine Adresse, müssen es also auf den Zufall ankommen lassen. Wir studieren erst einmal die Litfaßsäule: Vorträge im

Deutschen Hygienemuseum

-Geschlechtskrankheiten. Film, Vortrag, Aussprache.

-Ein offenes Wort über Sexualität. Sechs Regeln, die zu beachten sind

-Aids. Verantwortung für den Partner Der Kulturbund

der Stadt Dresden

-Gründungsversammlung Club Süd: Club der Intelligenz

-IG Genealogie: Spitzenahnen und ihre Darstellung. Ref. Bundesfreund Tuorb

-Freunde der Ornomolkologie: Die Bionomie des Dresdener Spannerfalters

Nebenan am Kiosk sind alle Zeitungen schon seit den frühen Morgenstunden verkauft, dafür erwerben wir diverse Taschenkalender für Vereinszwecke mit so wohlklingenden Titeln wie „Die sozialistische Landwirtschaft„; „Kleingärtner, Kleintierzüchter und Siedler„; „Rassegeflügel -, Ziergeflügel-, Exoten- und Kanarienzüchter“. In den Vorworten ist jeweils die Rede von „sinnvoller Freizeitgestaltung“ und „beispielhafter Initiative im sozialistischen Wettbewerb, die von volkswirtschaftlicher Bedeutung...“ sei. Auch eine Jubelbroschüre über das Kombinat „Schwarze Pumpe“ - in der viel von Neuerung und Herausforderung die Rede ist statt vom Dreckschleuderverfahren - gibt man uns gern. Sie liegt stapelweise da und wird anscheinend nicht mehr gekauft.

Der Versuch, im Zentrum ein Cafe zu finden, scheitert. In der „Großgaststätte Altmarkt“ ist das „Wiener Cafe“ geschlossen. Am Vorraum hängt ein Schild: „Wegen Havarie im Altmarktkeller - Leningrader Küche bis 20 Uhr in der Tanzdiele“. Die ist jedoch ebenfalls geschlossen, „Personalmangel“ ist der Grund. Offen hingegen ist der Ratskeller einige Straßen weiter. Mit den Gepflogenheiten im DDR-Gaststättenwesen muß sich der Unkundige erst vertraut machen. Man kann nicht hineingehen und sich, wie gewohnt, an einen freien Tisch setzen. Unterwürfig hat man sich dem Kellner zu nähern und nach Platz anzusuchen; ist welcher frei, ist der nächste Schritt der zur Garderobe, wo im Vernehmungston gefragt wird, ob man beim Kellner war. Endlich wieder angekommen im Gastraum, heißt es, diskret an der Seite zu stehen, bis der Kellner einmal ohne Tablett vorbeikommt und „plaziert“. Aus einem Seitensaal klingen Schlager der 50er Jahre, dort, laut Schild in der Halle, findet der „Tanz-Nachmittag für unsere Senioren“ statt.

Wir werden zu einem alten Herrn an den Tisch plaziert, ein Mittsechziger im Salonsteirer, Zigarre rauchend. Bald kommen wir ins Gespräch; er ist stellvertretender Verwaltungsleiter des hiesigen Schlachthofes, gibt sich jovial und saugt mit zurückgelegtem Kopf und halb geschlossenen Augen an seiner Zigarre. Im Schlachthof klappe alles tadellos, berichtet er, Leute seien ihm nicht abgehauen, der Betrieb laufe auf Hochtouren, täglich kämen die Lieferungen aus den LPGs Tierproduktion, von überall her aus dem Umland. Schweine, Kälber, Rinder würden bei ihnen geschlachtet ohne die geringste Verzögerung. Wenn in der ganzen DDR so ordentlich und fleißig gearbeitet würde wie bei ihm, dann gäbe es keine wirtschaftlichen Probleme, versichert er, klopft mit der Handfläche auf den Tisch und beugt sich zurück, um den Hosenbund über dem dicken Bauch zu entspannen.

Was er von der Wiedervereinigung halte, möchten wir wissen. Nun schlägt er einen vertraulichen Tonfall an: „Na, Frolleinchen, das ist für mich ja gar keine Frage, wir Deutschen sind ein Fleisch und Blut! Wir müssen wieder einig werden, nur so und nicht anders! Was der Kohl da zum Beispiel jetzt gemacht hat in Polen, das war vollkommen richtig. Sie können das ja nicht wissen, sind zu jung, also mit dem Polen ist das so, das war ja noch nie anders, einen Staat in dem Sinne hatte der gar nicht. Der soll jetzt mal gefälligst keine Ansprüche auf Grenzen machen, die ihm geschenkt worden sind nach dem Krieg, aber nicht von uns! Was ist denn passiert, der hat ja unsere ganze blühende Wirtschaft, die wir ham stehn lassen müssen, im Generalgouvernement, vollkommen runtergebracht. Schrottbetriebe sind das heute! Nein! Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, daß das wieder klappt. Wir können uns ja nicht von faulen Völkern irgendwelche Grenzen setzen lassen.“

Er saugt an der Zigarre und bläst uns, weitersprechend, den Rauch ins Gesicht. „Der Pole ist minderwertig und wird es bleiben, ein Menschenschlag der lieber Handel treibt, statt zu arbeiten. Jetzt, das haben Sie ja auch gehört, raubt er bei uns für Schwarzgeld die Warenhäuser aus und verschachert alles im Westen, macht auf unsere Kosten seinen Reibach. Denen muß man einen Riegel vorschieben!“

„Sind wohl Studentinnen, die Damen?“ fragt er nach einer Pause, unser Alter vollkommen verkennend. Ich murmele „Kunst“. Er nickt zufrieden: „Das ist was Schönes. Da haben Sie hier in Dresden viel zu besichtigen, Zwinger, Semperoper, Schloß, Albertinum, hier ist alles noch aus der Barockzeit, auch das Armeemuseum ist sehenswert...“ Wir machen interessierte Gesichter und stochern in unserer „Stelze im Kraut“, trennen die graurosa Schwarte vom Fett. „Auch die kommen von uns“, bemerkt er voll Genugtuung und deutet mit der Zigarre auf unsere Teller. Der Appetit nimmt merklich ab.

„Ich bin nun ausgesprochen für die Republikaner“, setzt er seinen Monolog fort, „das sind die einzigen die genau wissen, wo es nun hinzugehen hat. Und das dauert gar nicht mehr lange, Sie können es mir glauben, dann sind die auch hier ganz offiziell, so wie es sein muß, mit Kandidatur zu den Wahlen. Da sollen Sie mal sehen, wie wir Zulauf bekommen. Das glaubt heute vielleicht noch keiner, aber denken Sie an meine Worte! Nur ein geschlossenes Großdeutschland kann in Europa wieder stark werden und überleben, das ist nicht nur meine Meinung. Großraumwirtschaft, das hat sich bewährt. Dann sollen Sie mal sehen, wie die Faulvölker plötzlich ausgeschlafen haben. Und was ich noch hinzufügen möchte, was haben wir denn mit Polen, Tschechen, Ungarn und Russen zu tun, frage ich Sie, nicht so viel! Der deutsche Mensch ist ein Leistungsmensch. Und nun will ich Ihnen nochwas sagen, die, die jetzt rüber sind zu Ihnen, die Botschaftsflüchtlinge und die zweite Welle, mit denen werden Sie nicht viel Freude haben, das ist Abschaum! Arbeitsscheues und asoziales Gesindel, solche Existenzen, wie sie die Kommunistische Planwirtschaft herangezogen hat. Mit denen war nichts und wird nichts. Wer arbeiten kann, ordentlich und fleißig, wie es sich gehört, der wird überall was. Meine Meinung! Und die hat sich bewährt, von meinen Leuten ist keiner weg.“

Wir winken dem Ober und verlangen die Rechnung. „Wünsche den Damen noch einen schönen Aufenthalt“, sagt der Herr und lüftet andeutungsweise das Gesäß. Wir danken flüchtig und entfernen uns schnell. Draußen im Nieselregen haben wir beide das dringende Bedürfnis, dem nächstbesten SED -Funktionär an die Brust zu sinken. Gerade kommen aus dem „Haus der Volkspolizei“ die Beamten in grauen Uniformmänteln, auf dem Kopf die flauschigen Fellmützen in russischer Manier, mit aufgestellten Ohrenschützern und dem Polizeiemblem. Sie haben Feierabend und streben mit schwarzen Aktentaschen und öden Gesichtern der Straßenbahnhaltestelle zu, sehen sämtlich derart unsympathisch und unzugänglich aus, daß ein zarteres menschliches Anliegen sich von selbst verbietet.

Wir gehen, so wie anscheinend alle DDR-Bürger in ähnlicher Lage, zunächst in die Kirche. Die Kreuzkirche ist ein wuchtiger Kuppelbau aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Am Portal ein Schild „Bitte Tür schließen“. Der riesige Kirchenraum, dämmrig und kahl, ist geheizt. Oben in der Kuppel müssen Saunatemperaturen herrschen. Neben dem Eingang sind die Seitenräume hell erleuchtet, dort gibt es eine Fotoausstellung, Bilder vom Warschauer Ghetto. Auf wackeligen Stellwänden hängen die Fotografien, glühbirnenerleuchtet. Wir sind die einzigen Besucher. Die ersten Bilder, aus der Zeit vor dem deutschen Überfall auf Polen, sind von Roman Vishniak. Sie zeigen Arbeit, Armut und religiöses Leben der polnischen Juden. Die folgenden Bilder, aus der Zeit nach dem Überfall, sind ohne jeden Hinweis auf den Fotografen. Ich kenne diese Bilder, ein Angehöriger der deutschen Wehrmacht hat sie gemacht, sein Name ist Heydecker. 1941 war er, als Mitglied einer Propagandakompanie, in Warschau stationiert und hat im Ghetto fotografiert, was sich dem Auge bot. Wohlgemerkt, in deutscher Uniform, wenn auch, wie er später versicherte, für sich privat und um das Elend für spätere Zeiten zu dokumentieren. Ausschlaggebend an den Bildern aber sind die Momente ihrer Entstehung, für die Abgebildeten war die Tatsache, von einem Deutschen fotografiert zu werden, eine zusätzliche Existenzbedrohung, sie wird sichtbar in den ängstlichen Gesichtern. Für Heydecker war das Objekt von Interesse, „Schöne Köpfe“ betitelte er in seinem Buch die Todeskandidaten mit weißen Bärten und Schläfenlocken. Er fotografierte von oben herab, ein deutscher Mensch.

Nun fragt man sich: Weshalb fehlen zu seinen Bildern jegliche Angaben? Dem Besucher wird der Eindruck erweckt, als seien auch sie von Vishniak, weil die Sujets sich zu ähneln scheinen. Da machen Reformer und Pfaffen eine solche Ausstellung, und schon wieder kommt die antifaschistische Aufklärung mit einer absichtlichen Unterschlagung wesentlicher Fakten daher.

Im Vorraum hängen Anschläge vom Neuen Forum mit den Adressen der diversen Gesprächskreise. Eine junge Frau, die sich einiges abschreibt, fragen wir nach einem Treffpunkt oder einer Studentenkneipe. Sie lächelt: „Sowas gibt's hier bei uns nicht, leider, schon gar nicht am Abend, das findet alles in Privatwohnungen statt... außer, aber das ist ein Club, versuchen Sie es mal mit dem 'Wendelchen‘, liegt auf den Brühlschen Terrassen neben der Kunstakademie, gehn Sie einfach rein.“

Die Ruine der Frauenkirche ist eindrucksvoll, besonders bei Nacht. Man hat einfach alles liegengelassen nach dem Krieg. Oben aus dem Trümmerberg ragen zwei Fassadenreste empor, aus denen kleinen Birken wachsen. Drumherum liegen öde Neubauten, wir gehen weiter Richtung Elbe zu Kunstakademie und Albertinum. Wir irren zwischen den prunkvollen Fassaden herum, erreichen über eine geschwungene barocke Doppeltreppe die Elbterassen mit kleinem Park und großen, alten Bäumen. Im gelblichen Laternenlicht sitzen wildlebende Katzen herum. Irgendwelche gütigen Seelen füttern sie täglich. Endlich nähert sich zielstrebig ein junger Mann, den wir nach dem „Wendelchen“ fragen. Das sei zu, sagt er, wegen Bauarbeiten. Irgendetwas anderes kennt auch er nicht. Kurz entschlossen lädt er uns ein zu seiner Freundin ins Atelier, wir sollen einen Moment warten, er muß durchs Fenster steigen und den Schlüssel holen. Wir durchqueren einen Hof, in dem sich der Müll auftürmt vor der prächtigen Fassade. „Hier ist alles baufällig“, erklärt unser Gastgeber, „seit sie das neue Hotel gebaut haben nebenan, hat sich der Boden gesenkt, sogar die Ruine der Frauenkirche hat gewackelt. Die Wagen der Stadtreinigung dürfen nicht mehr hereinfahren wegen Einsturzgefahr. Hier der ganze Seitentrakt ist seit Jahrzehnten gesperrt, nur im Mittelteil die Räume sind noch benutzbar.“ Durch ein weiteres Holzportal gelangen wir ins Treppenhaus und in die warmen Flure. Es sieht aus wie in jeder alten Kunstakademie, weißlackierte Türen mit Oberlicht und auf den Gängen die Spindschränke aus Metall mit Namensschild und aufgebrochenen Schlössern.

Die Freundin begrüßt uns, ihr Atelier ist recht groß, sie benutzt es alleine. An den Wänden lehnen mehrere Bilder, Frauenfiguren, halb verwischt, in lehmigen Farben. Sie ist Mitte 20, bietet uns Platz an und macht eine Flasche ungarischen Wein auf. Es ist offenbar eine Folge des Mangels an öffentlichen Treffpunkten, daß jeder in der DDR immer auf unerwartete Gäste vorbereitet ist.

Wir erzählen ein bißchen von uns und werden nach Wohnungssituation und Mietpreisen gefragt. Sie bezahlt für eine Zweiraumwohnung, so der DDR-Sprachgebrauch, nur 40 Mark, hat, illegal zuerst, die Wand ins nebenstehende leere Haus durchbrochen und dort noch weitere Zimmer hergerichtet. Anfangs habe es Ärger gegeben und eine Anzeige. Der ABV sei gekommen, der Abschnittsbevollmächtigte Polizist, und habe gesagt, es sei erstmal o.k. Ihr Freund hat auf einer Fete, als er gerade von Erfurt kam, gleich vier Adressen bekommen. Wohnungen, die man einfach „besetzen“ konnte. Eine habe intakte Strom- und Gasanschlüsse gehabt inklusive funktionierender Gasheizung. Zähler seien keine mehr da gewesen, trotzdem sei die Wohnung legalisiert, er und ein Freund zahlen 30 Mark Miete, zuvor war es vollkommen gratis.

Sie berichtet, daß sie in einem halben Jahr fertig sei. Jeder Student werde nach dem Abschluß der Akademie in den Berufsverband der bildenden Künstler aufgenommen, bekomme dann zwei bis drei Jahre monatlich 400 Mark, danach müsse sich der Künstler „freischaffend“ weiterhelfen. Der Berufsverband vermittle aber weiterhin Kontakte zu Galerien, zu Bibliotheken und Organisationen für den Verkauf. Trotzdem sei es schwer, jeder DDR-Bürger müsse im Jahr ein Mindesteinkommen von 3.000 Mark aus Arbeitseinnahme nachweisen, sonst würde man als „Asi“, als Asozialer erfaßt und müsse mit Repressalien rechnen. Ihr Freund aber ist voller Zuversicht: „Ich werde von einem Pater betreut, der ein wirklich guter und intelligenter Mann ist. Der sagte mir neulich folgendes: Wenn erst mal die Vorherrschaft der Partei im Staat beseitigt ist, dann hat auch das Elend mit der Planwirtschaft ein Ende, dann wird es hier bei uns aufwärts gehen.“ Der Pater habe ihm auch ein Buch gegeben, von einem von Weizsäcker, dem Physiker, und das gefalle ihm sehr gut, er habe den Verdacht, daß Gorbatschow dort alles abgeschrieben habe. Beide schwärmen von „Aktionskunst“, die offenbar derzeit die avantgardistischste im Lande ist, eine Kollegin, erst im dritten Semester, mache am Samstag eine Aktion im Kunstverein, seit Tagen würde von nichts anderem gesprochen.

Morgens um acht vor dem Zeitungskiosk spielt sich folgende Szene ab. Die Kundenschlange rückt langsam vor, ein Stapel 'Neues Deutschland‘ liegt im Fenster. Die immer gleiche Frage wird gestellt: „Gibt's noch Zeitungen?“. Kioskfrau: „Nein, nur das 'ND‘. Früher aufstehn!“ Der Kunde nimmt ärgerlich das ungeliebte Blatt und sagt: „Ich steh‘ doch nicht um viere früh auf, nur um noch 'ne Zeitung zu erwischen!“

Wir hatten uns zu Beginn der Reise entschlossen, das „Kulturelle Erbe“ lediglich im Vorbeigehen mit dem Blick zu streifen. Die Redaktion hatte uns zwar einen eben erschienenen DDR-Kulturführer von Knaur mitgegeben, aber nachdem bereits im Kapitel über Berlin offenkundig wird, was man unter Kultur zu verstehen hat, haben wir ihn zugeklappt. Die alten Friedhöfe werden mit liebevoller Sorgfalt beschrieben, der jüdische Friedhof ist nicht einmal erwähnt. Das Buch sei hiermit rezensiert.

Zwinger und Kupferstichsammlung lassen wir also liegen und gehen ins Kaufhaus, Abteilung Haushaltswaren. Am Eingang stehen Drahtkörbe. Es sind schon viele Kunden da, vorwiegend Frauen. Gegen das, was wir in Budapester Kaufhäusern gesehen haben, ist hier das Himmelreich. Die DDR ist ein reiches Land, im Vergleich zu den anderen sozialistischen Längern. Daß sie ein deutsches Land ist, zeigt sich in der irren Vorliebe für fachsprachliche Wortschöpfungen. An einem Regal steht in großen Lettern: „Tafelgräte und Tafelhilfsgeräte“. Darunter sind zum einen Kerzenleuchter, Fruchtschalen und „Gebäcketageren“ zu verstehen, zum anderen das Besteck, die Schöpfkelle undsoweiter.

In der Abteilung für Kühlschränke, Waschmaschinen, Küchenherde, Duschkabinen undsoweiter herrscht feierliche Ruhe. Vor den ausgestellten Geräten sind Kordeln gespannt, damit man ihnen nicht zu nahe tritt, „Berühren verboten“. Außer einem gußeisernen Küchenherd, weiß emailliert, mit Backofenfach und Rollwagen fürs Brennmaterial, ist keines der Stücke derzeit lieferbar. An der Kasse hängt ein Schild: „Die aufgestellten Großgeräte sind Beratungsobjekte.“

Das Cafe im „Wiener Stil mit eigener Patisserie“ hat geöffnet. Ein Schild an der Tür läßt aufatmen: „Bis 14 Uhr begrüßen wir unsere Raucher.“ Seltsam nur, daß man dann, wenn alles vollgequalmt ist, die Nichtraucher begrüßt. An den Wänden ziehen sich glasierte Keramikreliefs entlang, spielende Paare in der Manier von Hummelfiguren. Der Kellner serviert mit großer Eleganz einen miserablen Kaffee. Zeitungen liegen aus, das 'Neue Deutschland‘ und die 'Sächsische Zeitung‘. Im Annoncenteil der 'SZ‘ schlägt sich das Drama der Ausreisewelle nieder, spaltenweise werden Wohnungseinrichtungen angeboten: „Haushaltsauflösung am 25.11. ab 16 Uhr, Dr. 8028, Kesseldorferstr. 40, II. Abfahrtski Elan 800,-. Küche 6teilig 1.500,-. Schlafz. weiß 400,-, div. Küchen und Elektroger. 5-500,-, Wäsche, Garderobe Da. 42 Herr. 50, Geschirr, Lampen, Wohnz. u. Kinderz. Garn. Bücher. Umständehalber abzug., kastr. Kater, vier Jahre alt, nur in liebevolle Hände.“

Fahrt mit der Linie 5 über die Elbbrücke Georgi Dimitroff nach Mickten, dort soll es ein Wannenbad geben. Unser Straßenbahnwagen schlingert und rumpelt auf der desolaten Schienentrasse in ein Arbeiterviertel. Die Häuser sind so schwarz, als hätten sie gebrannt. Wie überall in der DDR hat man auch hier kein Material zur Reparatur der Dächer, Regenrinnen und Ablaufrohre. Von neuem Putz ganz zu schweigen. Es tropft auf die Gehwege herunter, wo sich ein breiter Streifen Moos gebildet hat. Vor vielen Häusern türmen sich die abgekippten Briketthalden, sie müssen von den Mietern durch die Fensterluken in den Keller geschippt werden. Auf dem Kopfsteinpflaster stehen die Mülltonnen, gerade entleert, eine davon ist jeweils für Schweinefutter.

Die meisten der ehemaligen kleinen Läden stehen leer. Aufschriften wie „Obst und Gemüse“, „Tabak“ und auch „Kolonialwaren“ in schönen Lettern verwittern langsam im Putz. Bewohner müssen nun mit den Geschäften vorlieb nehmen, die vorn an der Hauptstraße liegen. Auch viele der Wohnungen stehen leer, besonders in den oberen Etagen wegen der desolaten Dächer. In den Hinterhöfen gibt es kleine Betriebe und Werkstätten, die offenbar in diesen Nischen noch überleben können. Überall spazieren Katzen herum, lungern in den Kellerfenstern oder betteln vor der Privatmetzgerei Kunden an.

Das Sachsenbad ist ein Backsteinbau aus den 20er Jahren. Unten in der Halle stehen um kunststoffbezogene Sitzgruppen herum mengenweise Grünpflanzen, die bei solch tropischen Temperaturen prachtvoll gedeihen. Die Frau an der Kasse strickt. Wannenbad 1.50, Römisch-Irisches Dampfbad 2 Mark. Wir nehmen „Wanne“ und steigen hinauf in den 2. Stock. Im Vorraum sitzen einige alte Frauen auf den Bänken und plaudern. Ihre Gesichter sind gerötet, sie ruhen sich ein wenig aus, bis der Kreislauf es ihnen erlaubt, den Heimweg anzutreten. Schon wieder ein Schild: „Eintritt nur ohne Schuhe!“ Wir stellen unsere dekadenten und schmutzigen Turnschuhe neben die reinlichen grauen und schwarzen Damenschuhe. Nur ein paar Kinderschuhe leuchten hellblau aus der Reihe.

Die Badewärterin kommt, eine alte freundliche Frau in weißem Kittel, nimmt unsere Marken und sagt: „Kabine 7 und 9, ich klopfe dann wenn die Zeit um ist.“

Die Kabinen sind schmal, weiß gekachelt, die Wanne hat Löwenfüße. Dann gibt es noch einen Schemel, Spiegel und eine Ablage. Kein Lattenrost vor der Wanne. Durchs Fenster flutet die Nachmittagssonne, unten auf dem Sportplatz spielen die Kinder kreischend Fußball. Es riecht sanft nach Reinigungsmitteln und Fichtennadelbad, man versinkt im weit entfernten Plätschern und Rauschen, im heißen Wasser. Mir ist, als hätte es die vergangenen 30 Jahre nicht gegeben.

Diese unbezahlbare halbe Stunde ist vorbei. Im Flur steht eine große Friseurhaube als Haartrockner bereit, zur kostenlosen Benutzung für alle. Sie braust ohrenbetäubend und macht einen solchen Wind, daß jedes Haar fliegt und im Nu trocken ist. Die Badewärterin berührt mich leicht an der Schulter, hält mir auf der Handfläche das 5-Mark-Stück hin, das ich in der Kabine als Trinkgeld hinterlassen habe: „Was ist denn das?“, fragt sie. „Fünf Mark West“ antworte ich leicht beschämt. Sie steckt es in die Tasche und sagt: „Hab‘ ich noch nie gesehen, hier kommt ja keiner sonst her aus dem Westen, und ich war ja auch nicht im Westen. Sehnse, ich hab‘ niemand drüben, und ich hab‘ niemand hier. Was soll ich also rüberfahrn, was soll ich mit den hundert Mark anfangen? Ich hab ja alles, was ich brauche. Aber trotzdem, vielen Dank, ich heb‘ mir das auf.“

Am Abend magenknurrende Suche nach einem Restaurant. Nirgendwo sind Plätze frei, der Ratskeller kommt nicht in Frage, ebensowenig die Touristenhotels, wo man jederzeit gegen Devisen „plaziert“ wird. Der DDR-Bürger bestellt vor, wenn er essen gehen will, manchmal Tage vorher, manchmal sogar bei Vietnamesen oder Russen Wochen vorher. Wir nehmen die Straßenbahn, die bewährte 5, und fahren Richtung Radebeul hinaus. Nichts, keine Kneipe ist zu sehen die geöffnet hat. Fast an der Endstelle leuchtet die Schrift „Zur goldenen Weintraube“ durchs Dunkel. Das HO-Lokal wartet mit dem Schild auf: „Wir begrüßen Sie in unserer Nichtrauchergaststätte.“ Drinnen herrscht Lautlosigkeit, weiße Wachstuchdecken auf den Tischen, Schnittblumen der Saison, Salz, Pfeffer, Zucker und Senf, streng abgezirkelt; alles strahlt kleinliche, rechthaberische Ordnungssucht aus. Mitten im Saal zwei Gäste. Ein alter Mann sitzt neben einem Afrikaner, als sei der gar nicht da.

Ich habe noch nie so tief deprimierte Schwarze gesehen wie in der DDR. Draußen neben der Haltestelle steht eine große beleuchtete Plakatwand. Die Sächsischen Bühnen Radebeul spielen als DDR-Uraufführung Becketts Glückliche Tage.

Nächtlicher Ausflug mit den Hunden im großen Volkspark hinter dem Hygiene-Museum. Er ist ein wenig dem Englischen Garten in München ähnlich, nur größer. Die langen Alleen sind orangefarben beleuchtet, es ist kurz nach Mitternacht. Ab und zu federt ein Jogger von Lichtkegel zu Lichtkegel, stilgerecht im Outfit, mit engen Hosen und Stirnband. Die Hunde sind seitlich in den Büschen verschwunden und kommen nach langer Zeit erst zurück. Im Pförtnerhaus vor dem Dynamo -Stadio brennt noch Licht, die Scheiben sind beschlagen. Es wird Zeit, daß wir unter unsere warmen Bettdecken kommen.

Frühstück im Eiscafe. Das ist auch so eine DDR-spezifische Einrichtung. Meist sind es große Räume. Metallstühle im Stil der sechziger Jahre, Tischchen, lange Selbstbedienungstheke und Kasse gehören zur Einrichung, die sich fast überall ähnelt. Hier kann man sich, auch im strengsten Winter, den Luxus eines Eisbechers genehmigen. Diese Cafes werden meist von den ärmeren Schichten der Bevölkerung frequentiert, besonders von alten Leuten. Sie holen sich eine Tasse Kaffe und packen die mitgebrachten Brote aus, andere essen eine kleine Portion Schlagsahne.

Elisabeth kommt von der Toilette zurück, sie ist von der Klofrau angeherrscht worden, weil sie eigenmächtig auswählen wollte, wo doch jeder Kunde auch hier zu warten hat, bis er „plaziert“ wird. Dennoch gab sie eine Westmark Trinkgeld, was zur Folge hatte, daß die Klofrau ihren Tonfall wechselte. Während Elisabeth noch erzählt, erscheint die Frau an der Toilettentür. Sie ist klein, Anfang siebzig, hat rot gefärbtes Haar und trägt eine blaue Kittelschürze. Nun tritt sie hastig an unseren Tisch, beugt sich leicht herunter und sprudelt hervor: „Wissen Sie, wir sind die Ärmsten der Armen in der DDR. Ich bin 72, bekomme an Altersrente 42 Mark, mein Mann ist Invalide, am Kopf, der bekommt 330 Mark. Er war Automechaniker, mußte immer unter dem Auto liegen. Demnächst gibt es ja eine Rentenerhöhung, bei mir sind's 30 Mark mehr dann. Jeden Abend gehen wir um siebene schlafen, weil der Fernseher kaputt ist. Schreiben Sie sich mal meine Adresse auf und schicken Sie uns eine Weihnachtskarte, besser noch ein Päckchen, vielleicht mit einer Tüte Kaffee drin, ein bißchen Schokolade, sowas vielleicht, darüber würden wir uns sehr freun.“

Während sie uns die Adresse aufschreibt, erzählt sie: „Ich habe ja viele westdeutsche Kunden hier, und die schicken uns alle auch Päckchen. Am Dienstag fahre ich mit meinem Mann zum ersten Mal rüber in den Westen, dann holen wir uns unsere zweihundert ab, die können wir gut gebrauchen. Also nur, wenn's nicht zuviel Mühe macht..., und entschuldigen Sie nochmal.“ Dann geht sie. Wir sitzen leicht beklommen. Ein verständliches Anliegen, aber die Zudringlichkeit wirkt routiniert.

Abfahrt Richtung Karl-Marx-Stadt, vorbei an der „Dresdener Heide“, am „Weißen Hirsch“, wo oben am Hügel die Datschen und Eigenheime der Betuchteren liegen. Ich erinnere mich an das, was mir ein Freund in Berlin erzählte von Bekannten, die am „Weißen Hirsch“ wohnen. Daß sie schon insofern privilegiert seien, als sie mitten über der „Grube der Ahnungslosen“ zwölf Fernsehprogramme empfangen. Gemeinsam habe die Villensiedlung für Empfangsschüssel und Verkabelung gesorgt, Manfred von Ardenne habe auch seine Finger drin gehabt bei der Beschaffung der ganzen Technik usf. Man lebe dort bestens, bei guter Luft und mit Elbblick.