Frecher Hund, fliegender Gewerkschafter

Vor dem heutigen Abschlußspringen der Vier-Schanzen-Tournee sind Dieter Thoma (BRD) und Jens Weißflog (DDR) Favoriten für den Gesamtsieg. Beide sorgen auch nebenbei für Aufregung  ■  Von Herrn Thömmes

Reden ist nicht gerade die Sache von Jens Weißflog. Wenn der Skispringer aus Oberwiesenthal (DDR) nach der Landung vor die Kamera gebeten wird, ist ihm kaum mehr als ein gegrummeltes „Ganz zufrieden“ zu entlocken.

Ein wenig verwundern muß es deshalb schon, daß ausgerechnet er zum Stellverteter einer Art Gewerkschaft gewählt wurde, mit deren Hilfe sich die Springer gegen Entscheidungen der Jurys zur Wehr setzen wollten. Die Geschichte datiert aus dem Jahre 1985. Bei der Skiflug-Weltmeisterschaft sollte der Wettbewerb durchgeführt werden „trotz katastrophaler Wetterbedingungen, der Zuschauer wegen“ (Weißflog). Die Athleten fürchteten um ihre Sicherheit und schafften sich ein Gremium zur Vertretung ihrer Interessen. Für den Weltmeister und Olympiasieger blieb sein Engagement nicht ohne Folgen.

„Als man in Berlin beim damaligen DTSB-Bundesvorstand davon erfuhr, war man überrascht ob solcher Mündigkeit und beschäftigte sich eingehend mit dem Vorgang“, schreibt die Ost-Berliner Zeitung 'Junge Welt‘, die nun „den Mantel des Schweigens“ gelüftet hat. Konsequenz: Der Trainer, folgerten die Funktionäre aus dem Vorfall, habe wohl keinen oder nur ungenügenden Einfluß auf den Sportler. Joachim Winterlich wurden seine Prämien gestrichen, ein Jahr lang durfte er den Springer nur zu hause betreuen, zu Trainingslagern im Ausland und internationalen Wettkämpfen fuhr Weißflog alleine.

Nicht mit bestem Erfolg. Der „fliegende Gewerkschafter“ ('Junge Welt‘) gilt als „sensibler Athlet“, der fehlende Trainer nahm ihm sichtlich die Form und Sicherheit. „Wenn es beim Athleten läuft“, sagt Weißflog, „reicht ihm der Pförtner an der Seite, wenn nicht, braucht er den Trainer.“

Die Springervereinigung existiert mittlerweile nicht mehr, auch mit einem anderen Kapitel seiner politischen Karriere hat der 25jährige vom SC Traktor abgeschlossen. Im Mai bei den Parlamentswahlen wird das Mitlgied der Volkskammer nicht mehr kandidieren: „Mir fehlt der Einblick.“ Im Moment kümmert sich der Springer um Ersatz für das dann fehlende Abgeordnetengehalt. „Wir werden Werbeverträge abschließen und einen Ski-Pool bilden.“

Wo's dabei lang geht, weiß auch Reinhard Hess nicht. Der Verbandsträger Skisprung der DDR hat wenig Erfahrung: „Wir müssen im Sponsorenbereich einiges lernen.“ Und überhaupt: „Über die Umstrukturierung des Sports herrscht noch keine volle Klarheit.“ Außerdem fehlen noch Devisen- und Steuerregelungen für den frei finanzierten Sport.

Jens Weißflog jedenfalls scheint von der Aussicht auf neue Zeiten beflügelt. Trotz geringen Trainings wegen einer Verletzung führt er nach drei Springen die Vier-Schanzen -Tournee, und beim heutigen Abschluß in Bischofshofen könnte er sich zum dritten Mal nach 1984 und 1985 den Gesamtsieg holen. Damit, glaubt der Sportstudent, „würde ich in die Garde der ganz großen Springer aufsteigen“. Im vergangenen Jahr allerdings reichte es auf der Naturschanze nur für Platz 19. „Ich habe keine Angst vor der Paul-Außer-Leitner -Anlage, aber mögen tu‘ ich sie auch nicht.“

Dieter Thoma kann das nur recht sein. Der 20jährige aus Hinterzarten liegt in der Gesamtwertung auf Platz 2 und könnte diese als erster Bundesdeutscher nach dem Erfolg von Max Bolkart vor 30 Jahren gewinnen. Für Aufregung indes sorgten nicht nur seine weiten Sprünge. „Wir sind die Deppen“, hatte Thoma gemosert, weil er für einen Springersieg ganze 3.000 Mark erhält, während die Alpinen für einen Weltcupsieg 13.200 Mark Prämie einstreichen.

Der Rüffel folgte umgehend. Helmut Weinbuch, Sportdirektor des DSV, rechnete dem Rotschopf vor, was ein nordischer Amateur heutzutage alles auf sein Konto baggern kann: „Ein Athlet, der sich für die Bundeswehr verpflichtet hat und im Rang eines Feldwebels steht, hat jährlich ein Gehalt von rund 50.000 Mark. Dazu kommen über die optimale Förderung der Sporthilfe ein paar Tausender monatlich, dazu ein Auto mit geringer Leasingrate, was nochmals 2.000 bis 3.000 Mark im Monat ausmacht. Wir bezahlen Lohnausfälle, die Taxifahrten ins Training, die Berufsausbildung und die Schule.“ Dazu könne sich jeder einen eigenen Werbe-Sponsor suchen.

Computer-Freak Thoma hat das wenig überzeugt. Der nämlich will gar nicht zur Bundeswehr, aus verständlichen Gründen: „Um nicht zu verblöden.“ Anders als weiland Weißflog muß der Springer jedoch für seinen Alleingang keine Konsequenzen fürchten. „Nur wer ein frecher Hund ist“, hofft Weinbuch, „hat auch im Sport Erfolg.“

Die DDR-Funktionäre tun sich da auch heute noch schwerer. Als der Reporter der 'Jungen Welt‘ die Sache mit der Springer-Gewerkschaft aus dem Dunkel zerrte, fand die Delegationsleitung bei der Vier-Schanzen-Tournee einen Bericht darüber „nicht empfehlenswert“. 38. Vier-Schanzen-Tournee

3. Springen in Innsbruck:

1. Ari-Pekka Nikkola (Finnland) 227 Punkte (108 + 108,5 m), 2. Jens Weissflog (DDR) 226,5 (107 + 108), 3. Ernst Vettori (Österreich) 222 (107,5 + 103), 4. Josef Heumann (Oberaudorf) 221,5 (105 + 107), 5. Risto Laakkonen (Finnland) 220 (108 + 102), 6. Dieter Thoma (Hinterzarten) 217,5 (109 + 100), 7. Virginio Lunardi (Italien) 216,5 (107 + 102,5), 8. Werner Haim (Österreich) 216 (101,5 + 106), 9. Andreas Felder (Österreich) 215,5 (103,5 + 106), 10. Frantisek Jez (CSSR) 215 (101 + 107) ... 21. Andreas Bauer (Oberstdorf) 204,5 (102 + 100) ... 26. Thomas Klauser (Reit im Winkl) 202 (98,5 + 101), ... 61. Robert Leonhardt (Berchtesgaden) 84,5 (91 m)

Gesamtwertung der Vier-Schanzen-Tournee nach drei Springen:

1. Jens Weissflog (DDR) 655 Punkte, 2. Dieter Thoma (Hinterzarten) 648,5, 3. Ari-Pekka Nikkola (Finnland) 645, 4. Risto Laakkonen (Finnland) 644,5, 5. Josef Heumann (Oberaudorf) 637, 6. Ernst Vettori (Österreich) 634,5, ... 22. Andreas Bauer (Oberstdorf) 583, 23. Thomas Klauser (Reit im Winkl) 578, ... 41. Robert Leonhardt (Berchtesgaden) 457,5.