Hilflosigkeit bei den sozialistischen Genossen

SED-PDS vor dem Neubeginn / Wie soll man einen Wahlkampf organisieren?/ Die Werbeplakate der Partei werden schon jetzt immer wieder abgerissen / Wenig Hoffnung am Start / Sind die Wahlergebnisse von 1946 schon vergessen?  ■  Von Peter Paul Dürr

Das alte ZK-Gebäude an der Spree liegt im Dunkeln, die Strahler sind abgeschaltet, der alte Glanz ist vorbei. Das Konsultationszentrum der Parteiführung der SED-PDS hatte für Donnerstag abend zum Erfahrungsaustausch geladen. Die Fragen: Wie wird die Arbeit in den Wohngebieten organisiert, wie der Wahlkampf geführt? hatten offenbar viele Genossen bewegt, denn der große Saal ist brechend voll. Doch dem Bericht von der neuen Diskussion über die Zukunft der Doppelnamen-Partei und ihrer nächsten Aufgaben muß ein alter Witz vorangestellt werden: Im Moskauer Lenin-Mausoleum herrscht große Aufregung: der Insasse ist verschwunden. Die Suche ist ergebnislos, schließlich findet jemand einen Zettel: „Bin zurück in die Schweiz. Ich glaube, wir müssen von vorn beginnen. Iljitsch.“

Wo bleiben die Vorgaben?

Schwere Schläge hat die dogmatische Parteibasis in den letzten Wochen hinnehmen müssen: den Verlust des garantierten Führungsanspruchs, die Abkehr der alten verbündeten Blockparteien, nicht enden wollende Enhüllungen über die kriminelle Vereinigung in Wandlitz und anderswo, eine völlig neue Führung, die sicher nicht ganz nach ihrem Geschmack ist und schließlich die Auflösung der Betriebszellen in den Ministerien und Verwaltungen sowie in den Streitkräften. Hinzu kommt, daß immer mehr Parteiorganisationen aus den Betrieben teils freiwillig, teils auf Druck der Belegschaft ausgezogen sind. Siebenhunderttausend Mitglieder haben das Parteibuch hingeschmissen - den verbliebenen 1,5 Millionen steht ein einschneidender Wandel bevor. Diese Art von Parteiarbeit nunmehr nur noch nach Feierabend und häufig mit erheblich mehr Freizeitaufwand zu betreiben - ist der Mehrheit vollkommen fremd. Der Diskussion an diesem Abend merkt man an, daß der vorgezogene Wahltermin nicht wie ursprünglich angenommen die jungen politischen Bewegungen und Parteien benachteiligt, sondern gerade die einstmals führende Partei am härtesten trifft. Man ist schlicht hilflos. Wo bleibt die zentrale Vorgabe? Wann endlich treffen die zentral hergestellten Wahlplakate, Sticker und griffigen Programme bei der Basis ein? Diese handgeschriebenen Zettel sind doch wohl der mitgliederstärksten Partrei des Landes unwürdig, oder? Es fehle an Räumen, klagen viele. Nicht einmal die Büros des „Wohn bezirksausschusses der Nationalen Front“ könne man in Beschlag nehmen, obwohl die Genossen die ganze Arbeit getragen haben. Doch heute ist alles anders. „Da werden wir die Räume wohl auch mit dem Demokratischen Aufbruch teilen müssen“, mutmaßt jemand, und aus einigen Ecken knurrt es grimmig zurück.

An Wahlen nicht gewöhnt

Aus vielen Diskussionsbeiträgen spricht die Ahnungslosigkeit über den Wahlkampf. Da helfen Verweise wenig, daß auch die Mitarbeit in Elternvertretung, Hausgemeinschaftsleitung, ja selbst in den Kundenbeiräten der Kaufhallen eine Form von Wahlkampf sei, die darüberhinaus auch Langzeitwirkung besitze. Jemand regt an, daß es sicherlich am besten sei, wenn sich auch die SED-PDS an die Spitze von neuen Bürgerkomitees stellte, anstatt die Initiative immer den anderen zu überlassen.

Doch die Stimmung im Wahllokal ist nicht die beste. Ein stellvertretender Kreisvorsitzender aus dem Neubaugebiet Hellersdorf bei Berlin berichtet, wie man engagiert den Wahlkampf begonnen und schon das achte selbstgefertigte Plakat herausgegeben habe. „Doch schon nach wenigen Stunden waren sie alle wieder abgefetzt...“

Seit der Bekanntgabe des Wahlbündnisses der Opposition ist auch klar, daß die Wahl am 6. Mai zur Kampfabstimmung für und wider die SED-PDS wird. Umso wichtiger wird es daher, alle Reserven zu erschließen. Doch der Partei, die sich an zurechtgeschusterte Mehrheiten gewöhnt hat, fällt es unendlich schwer, auf unbekanntem Terrain zu gehen. „Die Genossen brauchen neue Identitäten“, fordert der anwesende Genosse vom neuen Parteivorstand. Doch wo der Erfahrungsschatz für den Wahlkampf zu heben ist, darüber herrscht weitgehend Unklarheit. Der einzige Rettungsanker in dieser schweren Stunde scheinen die Alten zu sein. „Wir brauchen den Rat unserer Parteiveteranen, schließlich sind sie doch die einzigen, die noch einen echten Wahlkampf erlebt haben...“

Doch die letzten freien Wahlen liegen offenbar derart weit zurück, daß auch niemandem einfällt, wie sie am 20 Oktober 1946 in Berlin ausgingen: Die Ergebnisse zeigten eine katastrophale Niederlage der gerade erst vereinigten SED und einen triumphalen Erfolg der als „Rest-SPD“ belächelten Sozialdemokraten, die 48,7 Prozent der Stimmen errangen und sich vor den Christdemokraten mit 22,1 und dann erst der SED mit 19,8 Prozent plazierten. Das ZK-Organ 'Neues Deutschland‘ schrieb damals: „Die Entscheidung ist nicht zugunsten der von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vertretenen politischen und wirtschaftlichen Forderung und der bisher geleisteten Aufbauarbeit erfolgt, sondern aufgrund der von der reaktionären Presse wochenlang gegen die SED betriebenen unsachlichen Kampfesweise, deren Argumente neben den großen politischen Gesichtspunkten nebenherliefen.