Ostberliner stinkig wegen Müllgestank

■ Dioxin-Gefahr in Lichtenberg? / Auf einem Bürgerforum beklagten sich Anwohner über die Müllverbrennungsanlage in der Rhinstraße / Mangels Meßtechnik ist der Schadstoffausstoß völlig unbekannt / Fehlende Rauchgasreinigungsanlage soll erst 1992 eingebaut werden

160 Meter hoch ragen die beiden Schornsteine an der Grenze zwischen Lichtenberg und Marzahn in den Himmel. Die Schlote

-die höchsten im östlichen Ost-Berlin - gehören zum Heizkraftwerk Lichtenberg in der Rhinstraße. Seit Jahren stechen sie den Anwohnern nicht nur in die Augen, sie reizen auch ihre Nasen. „Dermaßen dick und stinkig“ sei die Luft, daß man nachts oft das Fenster nicht öffnen könne, klagte auf einem Bürgerforum am Freitag abend eine Lichtenbergerin, die am benachbarten Rosenfelder Ring im zehnten Stock eines Hochhauses wohnt. Ein Geruch sei das, bestätigte ein Mann, „als hätten wir den Ofen zu früh zugemacht“. Was die Anwohner besonders ängstigt: Aus einem der beiden Schornsteine steigen - ungefiltert - die Rauchgase einer Müllverbrennungsanlage (MVA), die dem Kraftwerk angegliedert ist. Aktivisten der Grünen Partei, die zu dem Forum eingeladen hatten, warnten: Aus den Schornsteinen steige auch Dioxin, das Seveso-Gift.

Kraftwerksdirektor Rainer Niessen wehrte sich - natürlich „gegen Panikmache“. Für den Gestank sei nicht sein Werk allein verantwortlich. Schließlich gebe es noch weitere Industrieanlagen in der Umgebung. Nur weil die Kraftwerkschlote die höchsten weit und breit seien, würde der Gestank stets seinem Werk angelastet, klagte Niessen. Genaue Aussagen über das, was den Schornsteinen entweicht, kann der Direktor allerdings gar nicht machen. Speziell für Dioxin gebe es im Gebiet des ganzen RGW (des osteuropäischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe) keine Meßtechnik, klagte Niessen: „Wir haben das Rauchgas nicht gemessen, weil wir das nicht beherrschen.“ Mit Westberliner Hilfe soll das nun nachgeholt werden. Dort, in der MVA Ruhleben, seien bereits „sehr viele Messungen“ veranstaltet worden, weil die Grünen im Westen schon jahrelang „sehr massiv aktiv“ seien, wußte der Kraftwerkchef.

Trotzdem sei auch in Ruhleben erst seit 1988 eine Rauchgasreinigung in Betrieb, versuchte der Direktor die Marzahner und Lichtenberger zu beruhigen. Und es sei sein sehnlichster Wunsch, nun auch die Lichtenberger Anlage mit einer Filteranlage auszustatten und auf „internationales Spitzenniveau“ zu hieven. Ende 1992, so sei es jetzt geplant, werde die MVA stillgelegt und bis 1996 runderneuert, womöglich mit Westberliner Hilfe. Für die Bürgerproteste sei er dankbar, versicherte der Direktor: „Mit hundert zornigen Bürgern im Rücken lassen sich diese berechtigten Forderungen ganz anders durchsetzen.“

Bürgerproteste sind es aber auch, die es den Ostberliner Behörden geraten erscheinen lassen, auf die Müllverbrennung nicht zu verzichten: Überall dort, wo der Ostberliner Abfall seit jeher abgekippt werde, reagierten die Bürger mittlerweile mit Protesten, berichtete ein Vertreter vom Kombinat Stadtwirtschaft. Nicht nur in Schöneiche gingen die Bürger auf die Barrikaden, sondern auch in Schwanebeck und Wernsdorf, wo die beiden anderen Ostberliner Müllhalden stünden. Die Deponierung von Müll sei noch weit „gefährlicher“ als die Verbrennung, zitierte Direktor Niessen die Argumentation seiner Kollegen von der Westberliner Stadtreinigung. Natürlich sei Müllvermeidung das beste und verstärktes Recycling geboten. Davon die Lösung aller Müllprobleme zu erhoffen, sei aber „illusionär“.

1975 als „Pilotanlage“ für den gesamten RGW erbaut, ist die Lichtenberger MVA bis heute die einzige in der DDR. 80.000 Tonnen Hausmüll werden hier jährlich verbrannt, etwa ein Viertel der 350.000 Tonnen Hausmüll, die in der Hauptstadt jährlich anfallen. Zum Vergleich: Die MVA Ruhleben schluckt pro Jahr 400.000 der insgesamt 1,4 Millionen Tonnen Hausmüll, die in West-Berlin jährlich anfallen.

hmt