Scheibengericht: Miles Davis / Charles Ives / J. S. Bach / Fritz Stiedry / Franz Schubert / Art of Noise / Frankfurter Kurorchester / 4'33 / Udo Lindenberg / Guiseppe Verdi

MONTAG, 08/01/9017 o MILES DAVIS

2 LP CBS 463351 1

Richtigstellung: Die Musik dieses Doppelalbums wurde nicht, wie der Titel nahelegt, von Miles Davis komponiert. Richtig ist hingegen, daß „Aura“ 1984 von Palle Mikkelborg für Miles Davis geschrieben und bei einem Konzert anläßlich der Verleihung des Leonie-Sonning-Music-Foundation-Preises an Miles Davis im selben Jahr in Kopenhagen uraufgeführt wurde. Mikkelborg hat sein neunsätziges, mit dem Intro zehnsätziges Konzert als Davis-Porträt gestaltet, in dem die stilistischen Entwicklungsphasen des Trompeters nachgezeichnet werden. Wer also enttäuscht ist, weil er dabei nicht über einen neuen, unbekannten Meilenstein stolpert, hat den Sinn des Unternehmens nicht begriffen. Von den zehn Buchstaben des legendären Namens hat Mikkelborg nicht nur die Satzzahl abgeleitet: Aus einer Reihe von zehn Tönen besteht auch das musikalische Material, das - nach serieller Verfahrensweise horizontal und vertikal gedreht und gewendet - in immer neuer thematischer Gestalt den künstlerischen Werdegang gliedert. Die Sätze tragen die Namen von Farben, in die Mikkelborg die Davisschen Stilperioden übersetzt hat: white, yellow, orange, red, green, blue, electric red (eine red-Variante), indigo und violet. Jeder Satz hat - allein schon durch die unterschiedliche Instrumentalisierung - sein spezifisches Gepräge, aber alle sind sie untereinander durch subtile Beziehungen verbunden: Erinnerungen, Anspielungen, entfernte Verwandtschaften. Zu Beginn von white bläst Miles Davis ein afrikanisches Thema - die weißen Klangflächen leuchten auf schwarzem Hintergrund. ellow wächst von elegischer Kammermusik (Harfe und Oboe) bis zu dröhnenden, Brucknerschen Blechsätzen, im treibenden orange setzt erst John McLaughlin mit virtuosen Läufen seinen Anspruch, bevor der Star die Technik wieder zur Klangsprache verwandelt. Man muß nicht unbedingt die eingelegten Reverenzen an Ives, Strawinsky und Messiaen auch wieder heraushören: Die Suite ist trotz aller Mikkelborgscher Kabbalistik einfach, eingängig und klangschön. o CHARLES IVES

Die vier Sonaten für Violine und Klavier/Largo für Violine und Klavier. Martin Mumelter, Violine; Herbert Henck, Klavier. Edition Michael Bauer. 2 LP MFB 011-012

Ives hatte später keine allzu hohe Meinung über diese Sonaten, die er zwischen 1901 und 1916 komponiert hatte. Daß es sich dabei um die neuartigste Musik handelte, die in dieser Zeit geschrieben wurde, haben sehr wenige Leute erst bemerkt, als Ives Mitte der zwanziger Jahre aufgehört hatte zu komponieren. Wenn er die gelegentlichen Kompromisse beklagt, die er einging, um mit traditionellen Floskeln „den Schlappohren zu gefallen“, die ihm zuvor auf verletzende Weise ihre Arroganz demonstriert hatten, ist ihm zuzustimmen. Sein kompositorisches Vorgehen war sehr früh schon so eigenwillig und eigenständig, daß die gefälligen Zugeständnisse als Niveaueinbrüche wirken. Schon das erhaltene Largo aus der allerersten Sonate weist diese Unabhängigkeit vom zeitgenössischen Stand der Tradition auf. Die musikalische Logik war ihm stets wichtiger als der Geschmack der Zeitgenossen. Herbert Henck, der sich seit langem und folgenreich um die Erschließung des Ivesschen Oeuvres bemüht, hat mit dieser Einspielung ein wichtiges und aufschlußreiches Kapitel des ersten Komponisten amerikanischer Musik vorgelegt. Die Sonaten sind im Tiroler Kurhaus Hall aus 4,20 Meter Abstand mit zwei Mikrofonen aufgenommen worden - ohne nachträgliche technische Eingriffe in den gegebenen Raumklang. Es gibt dynamisch „dickere“ Passagen bei Ives, deren Klangidee in den akustischen Verhältnissen untergeht. Wäre es in solchen Fällen nicht dienlicher, vom Ideal der naturbelassenen Situation abzurücken und mit gezielten Manipulationen das vom Komponisten Gedachte zu realisieren? Ich frage ja nur. o STADTGARTEN SERIES 1

Kölner Saxophon Mafia, Finküberthurm, Heberer/ Manderscheid, Köln Connection, Roger Hanschel, Franck Band.

Jazzhaus Musik JHM 1001 SER

In der Bundesrepublik findet man die reichhaltigste Jazz -Szene in Köln. Um nun auch Nicht-Kölner am improvisierten Reichtum der Stadt teilnehmen zu lassen, hat die Jazz Haus Musik mit dem Label Stadtgarten Series (der Stadtgarten ist die zentrale Spielstätte der Kölner Jazzer) eine Reihe von CDs gestartet, mit der die Vielfalt der Aktivitäten dokumentiert werden kann. Das erste Sammelwerk präsentiert zuvorderst - selbstverständlich - die „Kölner Saxophon Mafia“ mit Wollie Kaisers Sgt. Pepper-Fantasie Lonely From Sky It's A Home For Benefit Within Sixty Lovely Good Hearts A Day - ein Titel, den man sich merken sollte. Neben der intelligent gemachten Beatles-Paraphrase im Sauseschritt stehen die virtuosen und konzeptionell geschlossenen Stücke des Trios „Finküberthurm“, die freien oder deklamatorischen Duette Thomas Heberers, tp, und Dieter Manderscheids, b; des „Mafiosi“ Joachim Ullrichs zwanglose Miniaturbigband „Köln Connection“, der solistische Seiltanz des Saxophonisten Roger Hanschel und der fetzig hastende Jazzrock der „Franck Band“. Das ist ein Programm, das alle Bedürfnisse bedient, von der besinnlichen Suche nach dem richtigen Ton über die witzig-ausgefuchste Musik bis zur überbordenden Spiellust. o J.S.BACH/

FRITZ STIEDRY

Die Kunst der Fuge, bearbeitet für großes Orchester. Klaus Hellwig, Thomas Weber, Klavier; Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Hans Zender. Schwann/Musica Mundi,

VMS 1636 (2 LP)

Weil Bach „Die Kunst der Fuge“ abstrakt notiert hatte, also ohne sie zu instrumentieren, waren manche der klugen Köpfe der Ansicht, das Werk dürfe allenfalls gelesen, nicht aber gespielt werden. Der Dirigent Fritz Stiedry (1883-1968) hat sich nicht daran gehalten. Seine souveräne, klare Orchesterfassung, deren Realisierung hier zum ersten Mal auf Platte erscheint, ist nach all den Versuchen, das musikalische Gedankenspiel kammermusikalisch ausgetrocknet oder mit vokalem Leidensausdruck zu interpretieren, ohne jede Dramatisierung in warme Klangfarben übersetzt. Die Canons werden ebenso unprätentiös und sinnlich auf zwei Klavieren gespielt. Wenn die klugen Köpfe auch Ohren haben, wird ihnen diese wirkungsvolle Version die Augen öffnen. o ART OF NOISE

Below The Waste.

Polydor 839404-1

Die englischen Sample-Künstler vertreiben zwar weiterhin ihre tanzbaren, und deshalb überraschungsfreien Drumcomputer -Patterns, haben aber diesmal ganz echte Menschen mittun lassen. Nicht nur Simon Mahlathini and the Mahotella Queens, die extreme Kurzfassungen afrikanischer Gesänge auf das synthetische Klangmenü warfen, sondern sogar ein Sinfonieorchester muß im Studio gewesen sein. Das hat für einige Stücke den wahrhaften Streichersound geliefert und ganz zuletzt, im Stück Finale, eine butterweiche Bearbeitung des Bachchorals Wenn ich einmal muß scheiden hinterlassen. Ich tippe auf eine Grippe-Epidemie. o FRANZ SCHUBERT

Klavierwerke.

Alfred Brendel, Klavier.

Philips 7 CDs 426 128-2

Daß Alfred Brendel hin und wieder brummelt, stört ebenso wenig wie der Gesang des seligen Kollegen Glenn Gould. Dem Klavierspiel aber hört man an, daß auch Brendel sich aufs Singen versteht. Schuberts Klavierwerke hören sich an, als ob er sie in einem Zug durchgespielt hätte, ohne zu ermüden: von der ersten bis zur letzten Sonate die gleiche Intensität, Klarheit und rhetorische Sicherheit. So mancher Versuch, die Schubertsche Musik wildromantisch aufzuheizen oder ihr die dämonische Abgründigkeit zu verleihen, haben stets ihre Empfindlichkeit offenbart. Alfred Brendel geht den direkten und schwierigsten Weg - den schlichten Grat, besonders da, wo Schubert die Versuchung der theatralischen Überhöhung mit einkomponiert hat. Das macht sich vor allem in den bekannten Impromptus op.90 und op.142 angenehm bemerkbar. Hier hört man, wieviel Sentimentalität und Schmiß da bisher hinzugefügt wurde. Manchmal, wie im Adagio der Wanderer-Fantasie, scheint Brendel sogar die Klangfarbe des Flügels verändern zu können. Erklärbar ist das nur mit einem ungeheuer differenzierten Anschlag, mit dem der Pianist neben der Dynamik eben noch andere Parameter im Griff hat. o FRANKFURTER KURORCHESTER

Live. RillenWerke 8912

Darauf sind Ausschnitte der Volxoper, einer Folge unterschiedlichster Musiken, deren Zusammenstellung Auskunft über die engere Zeitgenossenschaft des Kurorchesters gibt. Da wird mit Bartoks Rumänischem (Volx)Tanz das jüngst Erlebte kommentiert. Esta China ist eine Stellungnahme aus Südamerika, With A Little Help von den Beatles (so oder so zu verstehen), Cemetery Polka von Tom Waits bis hin zu Blackbird, der natürlich zum Whitebird umgefärbt wird. Es gibt sehr beeindruckende Nummern darunter, wie etwa die Volxhymne, eine irrwitzige Collage aus Hymnen und Befreiungsgesängen, die Frank Wolff effektsicher vom Cello streicht. Es gibt aber auch qualitative Talfahrten, wie das schräge Frankfurt (nach Down Town), bei denen sich einem die Nackenhaare aufstellen. o 4'33

Amadinda Percussion Group, Zoltan Kocsis; Cage, Cage -Harrison Varese, Chaavez.

Hungaroton SLPD 12991

Eine neue Platte aus dem ungarischen Szombathely, wo der Musiker und Musikwissenschaftler Andras Wilheim für das Land die musikalische Moderne aufarbeitet. Die Amadinda Perkussionsgruppe, deren Platte er produzierte, hat Edgard Vareses wildes, tänzerisches Schlagzeugstück Ionisation eingespielt, die Toccata von Carlos Chavez, Amores und Third Construction von John Cage, auch Double Music, das Cage zusammen mit Lou Harrison verfaßt hat. Alle Stücke klingen ganz unangestrengt, leicht und swingend. Sie wirken „zurückgenommen“, das heißt, die Einzelereignisse verschmelzen nicht in einem gebauten, dynamischen Bogen, treten also bei aller Zurücknahme umso schärfer hervor, und der Bogen entsteht im Kopf des Hörers. Aber es ist ihnen ein dramaturgischer Fehler unterlaufen. Das Titelstück, 4'33 von John Cage, die wichtigste Komposition des Jahrhunderts (drei Sätze: I. tacet, II. tacet, III. tacet) ist ans Ende der ersten Plattenseite gesetzt. Wer hört denn da noch hin?!