Tatort Altenheim: die ganz normale Verrohung

Zweiter Altenheimskandal im Wintersportort Garmisch / Landratsamt entzieht Heimleiterin Konzession / Mißstände gehören jedoch in vielen Heimen zur Normalität / Trotz hohen Altenanteils in Garmisch wird Altenheimschule geschlossen und kritischer Heimleiter entlassen  ■  Von Luitgard Koch

Garmisch-Patenkirchen (taz) - Wer Garmisch hört, denkt an Berge, Schnee und Skifahren. Momentan jedoch bangen die ortsansässigen Honoratioren um das Image des oberbayerischen Fremdenverkehrsortes. Zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres gerät der Wintersportort in Verruf. Grund der negativen Schlagzeilen: Skandale um private Altenheime. Wegen mangelhafter Betreuung der alten Menschen und ungenügender medizinischer Kenntnis des Pflegepersonals entzog das Landratsamt gestern der Altenheimpflegerin Svetlana Abraham die Konzession. Sie darf ihr „Haus Tusculum“ nicht weiter führen. In dem nach außen hin schmucken Kurhotel versorgten nur drei Angestellte und zwei Aushilfen 16 Heimbewohner. Für den Nachtdienst war eine gelernte Friseuse allein zuständig. Außerdem waren die Aushilfen bei der Kontrolle durch die Behörden nicht in der Lage, die jeweiligen Medikamente ihren Patienten zuzuordnen. Und die Behörden stellen fest, daß „eine Patientin in so schlechtem Zustand war, daß ihr womöglich schwere gesundheitliche Gefahren drohen“.

Erst im Sommer vergangenen Jahres wurde die Leiterin des Altenheims „St.Martin“, GertrudeR., wegen Freiheitsberaubung und Mißhandlung Schutzbefohlener verhaftet. In ihrem einstöckigen Landhaus findet der Garmischer Amtsarzt Hans Bergemann Anfang 1988 drei PatientInnen an ihre Stühle gefesselt und mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Das Landratsamt erstattet daraufhin Anzeige, die Staatsanwaltschaft ermittelt zögerlich. Ein Jahr später wird Bergemann wieder fündig. Im Keller von St.Martin lagern müllsäckeweise Neuroleptika. Außerdem hantiert die Heimleiterin und ehemalige Musiklehrerin mit hochwirksamen Betäubungsmittel, die in einem Altersheim nichts verloren haben. Wieder erstattet das Landratsamt Anzeige. Erst nach eineinhalb Jahren rafft sich die Münchner Staatsanwaltschaft zu einem Ortstermin auf und will die damals an ihre Stühle gefesselten Patienten vernehmen. Der Heimleiterin wird der Termin vorher angekündigt.

Als die Staatsanwaltschaft zur Vernehmung anrückt, sind die drei alten Menschen jedoch bereits tot. Zwei von ihnen starben kurz vorher. Im Mai werden die Leichen der Verstorbenen obduziert. Die Staatsanwaltschaft findet zwar keine Anzeichen eines gewaltsamen Todes, aber auch der Münchner Staatsanwalt Friedrich Bethke hält danach „gröbliche Vernachlässigung der pflegerischen Pflichten für eklatant“. Die Körper der Verstorbenen waren ausgemergelt und an vielen Stellen wundgescheuert. Freilich ist nach jener im Frühjahr aufgedeckten Tötungsserie auf der Altenstation im Wiener Krankenhaus Lainz bekannt, daß es auch möglich ist zu töten, ohne Spuren zu hinterlassen. Ausschlaggebend für die Verhaftung der Heimleiterin sind letztlich die Zeugenaussagen von ehemaligen Praktikantinnen des Altenheims. Sie sagTen vor der Polizei aus, daß Patienten mit Elektrokabeln und Teppichklopfern geschlagen wurden. Im Heim war es an der Tagesordnung, daß manche alte Menschen nackt und gefesselt in ihren Exkrementen auf Plastikstühlen saßen. Um Windeln zu sparen, wurden sie abends mit dem Schlauch abgespritzt.

„Macht über Leben und Tod“

„Es hat lange gedauert, bis die sich getraut haben, zur Polizei zu gehen“, weiß Colin Goldner, der Leiter einer privaten Garmischer Altenheimschule. Die Frauen mußten nämlich bei GertrudR. einen Vertrag unterschreiben, der sie zum Schweigen zwingen sollte. Außerdem versuchte die skurrile Heimleiterin ihre Praktikantinnen mit schwarzer Magie einzuschüchtern. Bereits als der erste Altenheimskandal bekannt wurde, betonte Psychologe Goldner: „Das ist nur die Spitze eines Eisbergs. Der angebliche Skandal gehört zur Normalität in den meisten privaten Altenheimen.“ Aber auch in den christlichen Heimen der Caritas, so Goldner, herrschten oftmals katastrophale Zustände, wie etwa auch im Berliner St.Mathias-Heim, das vor kurzem freiwillig seine Pforten schloß. Allerdings steht für Goldner fest: „Mit der Verhaftung von HeimleiterInnen ist es nicht getan, sie sind genauso Opfer der altenfeindlichen Strukturen wie die Alten selbst.“

Obwohl Garmisch die Gemeinde mit dem proportional höchsten Altenanteil in der BRD ist, existieren nur 15 kleinere Altenheime, alle in privater Hand. Altenheime können ein lukratives Geschäft sein: So erhielt die Heimleiterin, GertrudeR. für 20 Patienten 60.000 Mark im Monat. Das Geschäft mit den Senioren kann jeder machen, der ein Leumundszeugnis nachweisen kann und zwanzig Mark für einen Gewerbeschein bezahlt. Gesetzliche Regelungen zur Mindestzahl von Pflegepersonal und deren Qualifikation gibt es nicht. „Ein Altenheim ist leichter aufzumachen als eine Pommes-Frites-Bude“, kritisiert der Altenheimschulleiter Goldner. Der 36jährige verliert demnächst seinen Job. Ende März dieses Jahres macht der Besitzer, Wolfgang Blindow, nämlich seine Altenheimschule dicht. Angeblich wegen finanzieller Schwierigkeiten. Den unbequemen Kritiker Goldner ist Garmisch damit erst mal los. Der Psychologe gibt jedoch nicht auf. Zusammen mit Medizinern, Sozialpädagogen und anderen Psychologen gründete er bereits das „Kritische Forum Gerontologie“. Das Forum soll sich hauptsächlich mit der Fort- und Weiterbildung des Pflegepersonals beschäftigen. Wichtig sind nach Ansicht Goldners vor allem ein therapeutisches Angebot und eine regelmäßige Supervision, um die oft an die Substanz gehenden Todeserfahrugen zu verarbeiten. „Die Betreuer haben oft zum ersten Mal in ihrem Leben Macht über Leben und Tod“, erläutert Goldner die Notwendigkeit einer psychologischen Unterstützung. Alleingelassen mit der Misere gibt es für die meisten nur zwei Alternativen, weiß der engagierte Schulleiter: „Man verroht oder zerbricht.“

Das „Forum kritische Gerontologie“, Postfach 800121, 8000 München 80, hat eine 40seitige Dokumentation über die Vorfälle in Garmisch erstellt mit dem Titel „St. Martin ist überall“. Für 15DM kann sie bestellt werden.