Erklärung Berliner PhilosophInnen-betr. Euthanasie im Fach Philosophie", taz vom 8.12.89

betr.: „Euthanasie im Fach Philosophie“,

taz vom 8.12.89

Seit einiger Zeit werden in der Bundesrepublik die Thesen von Peter Singer zur Euthanasie kontrovers diskutiert. Im Rahmen dieser „Diskussion“ ist es wiederholt zu massiven Störungen von Veranstaltungen mit und über Singer gekommen. Jüngstes Beispiel dieser Störungen sind die gewaltsamen Behinderungen des Seminars von Prof.Kliemt zu Singers Praktische Ethik im WS 1989/90 in Duisburg (vergleiche taz vom 8.12.89). Dieser Versuch, die Diskussion mit Singer selbst und Veranstaltungen, die sich mit seinen Thesen auseinandersetzen, in ähnlicher Weise behindert wurden (vergleiche 'Die Zeit‘ vom Juni-Juli).

Unabhängig davon, wie man zu Singers Thesen der Sache nach steht, halten wir die Verhinderung der Diskussion dieser Thesen für einen skandalösen Vorgang, der das elementare Gebot argumentativer Toleranz verletzt. Wir geben zu bedenken:

1. Singers Praktische Ethik ist kein „Aufruf zum Mord“. Sein Buch ist prinzipiell nicht vergleichbar mit ideologischen Schriften, die durch Appelle an Emotionen, Vorurteile oder Kosten-Nutzen-Kalküle Euthanasie propagieren. Im Gegenteil stellt Singers Buch den Versuch dar, eine rationale und konsistente Lösung für die unterschiedlichen Probleme der angewandten Ethik zu erarbeiten und dabei die Voraussetzungen seines Denkens offenzulegen. Wenn seine Ergebnisse gegen einige unserer geläufigen moralischen Vorstellungen verstoßen, dann sind wir aufgefordert, uns nicht nur auf unsere Gefühle zu berufen, sondern eine konsistente Gegenposition auf der Grundlage von Argumenten zu entwickeln.

2. Singers Buch ist wichtig, weil es sich in erster Linie mit solchen Problemen beschäftigt, für deren Beurteilung und Entscheidung in unserer Gesellschaft keine allgemein akzeptierten Kriterien (mehr) vorhanden sind. Wenn wir mit solchen praktischen Entscheidungsproblemen, die Fragen von Leben und Sterben betreffen, persönlich konfrontiert werden, dann brauchen wir Kriterien zur Entscheidung. Eine Aufgabe der Philosophie besteht darin, solche Kriterien zur Entscheidung moralischer Probleme zu klären, indem sie deren Implikationen und Voraussetzungen offenlegt und so ein rationales Abwägen ermöglicht. Genau dies leistet Singers Buch.

3. Eine der besonders umstrittenen Thesen Singers ist, daß man unheilbar leidende Menschen und Tiere, die sich über die Frage, ob sie weiterleben wollen, kein Urteil bilden können, schmerzlos töten darf. Es ist bezeichnend für den bisherigen Stil der „Debatte“, daß aus Singers Buch immer nur diese These herausgriffen wird, ohne den Zusammenhang mit den anderen von ihm diskutierten moralischen Problemen wie Abtreibung, Verpflichtung gegenüber Diskriminierten, gegenüber der sogenannten Dritten Welt und gegenüber Tieren überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Bei diesen Themen dürften die „Frontstellungen“ der Auseinandersetzung quer zu denen in der Debatte zur Euthanasie verlaufen. Singers Positionen zu diesen unterschiedlichen Problemen ergeben sich jedoch zusammenhängend aus seinem Personenbegriff und der Grundverpflichtung, Leiden zu vermeiden. Wer nur einige von Singers Positionen teilt und andere nicht, steht vor der schwierigen Aufgabe zu zeigen, daß dies widerspruchsfrei möglich ist.

4. Singers Buch ist 1979 auf englisch erschienen. Seitdem wird es im angloamerikanischen Sprachraum diskutiert. Uns ist nicht bekannt, daß in England, Amerika und Australien je ein Seminar boykottiert, eine Vorlesung Singers gesprengt wurde. Man mag dagegen einwenden, daß eine Diskussion der Singerschen Thesen zur Euthanasie vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einen anderen Stellenwewrt hat. Das ist wahr und erlegt uns bei der Diskussion dieser Thematik eine besondere Sorgfaltspflicht auf. Man sollte aber auch aus dieser Geschichte gelernt haben, daß es fatal ist, Probleme zu verdrängen oder deren Diskussion durch Gewalt zu verhindern.

Berlin, den 14.12.89

Prof.Dr.G.Abel, TU;

PD Dr.N.Bolz, FU;

PD Dr.U.Gähde, FU;

Dr.G.Herzberg, FU;

Prof.Dr.C.Hubig, TU;

Prof.Dr.P.Krausser, FU;

PD Dr.E.M.Lange, FU;

M.-S.Lotter, M.A., TU;

Prof.Dr.W.Müller-Lauter, KiHo;

Dr.W.Pfannkuche, FU;

Dr.B.Rössler, FU;

Prof.Dr.W.Schmidt-Biggemann, FU;

Dr.P.Stemmer, FU;

Dr.B.Thöle, FU;

Dr.A.Wildt, FU;

Dr.H.Fink-Eitel, FU;

Dr.Th.Bartelbort, FU;

Prof.Dr.M.v.Brentano, FU;

S.Gosepath, M.A., HdK;

M.Herrmann, M.A.,

FU; Prof.Dr.F.Koppe, HdK;

Prof.Dr.S.Krämer-Rammert, FU;

Dr.G.Lohmann, FU;

Prof.Dr.U.Moulines, FU;

M.Otto, M.A., FU;

Prof.Dr.H.Poser, TU;

Dr.R.Schanz, FU;

Dr.G.Seebaß, FU;

Prof.Dr.M.Theunissen, FU;,

Prof.Dr.E.Tugendhat'FU;

Prof.Dr.U.Wolf, FU