Aidspolitik der DDR wird scharf attackiert

Memorandum gegen den bisherigen Kurs der Testomanie / Sexual- und Aidsberater verlangen wirksame Aufklärungsstrategien und Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen / Nach der Öffnung der Grenzen kein Grund für Hysterie und Katastrophenangst  ■  Von Andreas Salmen

Berlin (taz) - Die staatliche Aidspolitik der DDR gerät unter Beschuß. Zwei bekannte Vertreter der DDR -Schwulenbewegung kritisieren in einem Memorandum, daß dem Test auf HIV-Antikörper immer noch der Vorrang gegenüber einer adäquaten Aufklärungsstrategie eingeräumt wird. Der Ostberliner Sexualberater Günter Grau und der Leipziper Leiter der kürzlich ins Leben gerufenen Aids-Hilfe DDR, Rainer Herrn, fordern vor allem eine bessere Aufklärung der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe der homosexuellen Männer.

Anlaß des Memorandums ist die neue Aids-Diskussion in der DDR nach Öffnung der Grenzen. Die Autoren registrieren „eine bislang in der DDR nicht gekannte Hysterie und hektische Betriebsamkeit“. Pressekonferenzen, Interviews und Flugblattaktionen würden sich seit November überstürzen, ganz so, „als stünde eine Katastrophe bevor“. Auf diese Weise werde ein dringlicher gesundheitspolitischer Handlungsbedarf suggeriert, der ausschließlich mit „Hygienemaßnahmen“ eingelöst werden soll. Die beiden Wissenschaftler wenden sich deshalb „tief besorgt über den Mangel an Besonnenheit“ an die Öffentlichkeit.

In ihrem Papier greifen Grau und Herrn vor allem den Hauptverantwortlichen der DDR-Aidspolitik, Prof. Niels Sönnichsen von der Berliner Charite, scharf an. Sönnichsen hatte nach der Öffnung der Grenzen gefordert, daß jeder, der einen Intimkontakt aufnehmen wolle, „sich vergewissern muß, ob und wann sich sein Partner auf Aids hat testen lassen“. Die Benutzung von Kondomen beim Analverkehr wies er als unsicher zurück. Sönnichsen ist seit 1986 Chef der Aids -Beratungsgruppe im Gesundheitsministerium der DDR, die die Richtlinien der Aidspolitik bestimmt. Erstes Ziel dieser Politik war die Ermittlung HIV-positiver Schwuler, die bei einem Ansteckungsverdacht in die 15 Konsultationseinrichtungen der DDR zitiert, dort getestet und regelmäßig untersucht werden. Mit dieser Strategie wurden bislang 83 HIV-Infizierte aufgespürt. 16 von ihnen sind bisher an Aids erkrankt, acht Patienten sind gestorben.

Beifall fand diese Aidspolitik vor allem bei westlichen Hardlinern. Der 'Spiegel‘, bekannt für Apokalypse-Szenarien, in denen sexbesessene Schwule Aids über die Menschheit bringen, ist treuester Fan der DDR-Politik. Sönnichsen ist gern gesehener Gast bei Bayerns Staatssekretär Gauweiler, der den Mann aus Ost-Berlin auch in den wissenschaftlichen Beirat der von ihm herausgegebenen Zeitschrift 'Aidsforschung‘ aufnahm.

Die bisherige niedrige Infektionsquote in der DDR, vom 'Spiegel‘ noch als Erfolg konsequenter Aidsbekämpfung gefeiert, wird in dem Memorandum als Ergebnis der „bisher isolierten Situation der DDR und dem Fehlen einer kriminalisierten Drogenszene“ eingeordnet. Von einer wirklichen Aidspolitik als gesamtgesellschaftliches Anliegen könne dagegen bisher überhaupt nicht die Rede sein. Aidspolitik in der DDR sei bislang Verschlußsache gewesen, Diskussion und Kritik habe es nicht gegeben.

In ihrem Memorandum fordern die Autoren nun eine „strikte Neuorientierung, in der nicht mehr auf autoritäre Strukturen und die kontrollierende Macht des Staates gesetzt wird“. Die - besonders seit der Grenzöffnung - ständige Propagierung des HIV-Tests als Lösung des Problems sei einzustellen. „Entsetzt“ zeigen sich Grau und Herrn über das Zwangstesten aller Strafgefangenen der DDR. Diese Tests ohne Einwilligung der betroffenen Personen auch noch als „human“ zu deklarieren, sei „ein trauriger Zynismus“.

Die derzeitige Aidspolitik provoziere bei homosexuellen Männern Ängste vor repressiven Maßnahmen. Daran habe auch die in den letzten Jahren liberalisierte Haltung gegenüber der Homosexualität nichts geändert. Demgegenüber müßten die Schwulen in der DDR „motiviert werden, freiwillig und aus Einsicht risikoarme Verhaltensweisen im Sexualleben zu erlernen“. Aufklärungsstrategien hätten sich auf die Hauptbetroffenengruppe der Schwulen zu konzentrieren. Bis heute sei es aber „zu keiner Zusammenarbeit mit der Aids -Hilfe homosexueller Männer (ein Arbeitskreis von 17 kirchlichen und fünf anderen Gruppen) gekommen“.

Grau und Herrn verlangen ein Sofortprogramm gegen Aids in Abstimmung mit Selbsthilfegruppen. Als Berliner Pilotstudie sei ein „Stop-Aids-Projekt“ zur individuellen Verhaltensmotivation zu entwickeln, das eng mit demselben Westberliner Projekt zusammenarbeiten soll, das in diesem Jahr startet. Weiter kritisieren sie, daß es bisher in der DDR an den für Safer Sex notwendigen Gleitmitteln mangele. Deren Produktion müsse endlich aufgenommen werden. Schließlich wird moniert, daß der Ministerratsbeschluß zur Aidspolitik vom 16. September 1987 immer noch nicht offengelegt und über seine Umsetzung öffentlich keine Rechenschaft abgelegt wurde. Nach wie vor sei zum Beispiel völlig unklar, welche Gelder in die Aufklärung geflossen seien. Bei HIV-Tests müsse künftig auf mehr Rechtssicherheit geachtet und eine strenge Vertraulichkeit gesichert werden.