Kreuzberg zum ersten, zum zweiten...

■ ORA 34 - ein neues „multikulturelles“ Zentrum in der Oranienstraße Wie lange gibt es noch die „Kreuzberger Mischung“?

„Keine Angst vor der neuen Entwicklung. Wenn wir alle zusammenstehen, werden wir auch in Zukunft blühendes Gewerbe und blühende soziale Einrichtungen haben!“ sprach Kreuzbergs Bezirksbürgermeister König, und andere Sonntagsredner machten mit floralem Sozialarbeiterdeutsch weiter. Gegen vereinzeltes Murren ob soviel guter Worte in bösen Kreuzberger Zeiten setzte Prof. Günter Hämer von S.T.E.R.N. mit Nachdruck: „Demokratie muß sein!“ Hat er damit die DDR -Volksdemokratie gemeint, die Kreuzbergs betuliche Randlage und billige Gewerbemieten zur Zeit einigermaßen durcheinanderschüttelt?

Was für einzelne kleine Gewerbe und soziale Einrichtungen schon böse Wirklichkeit geworden ist, die Verdrängung durch steigende Gewerbemieten, ist diesmal noch mal gut gegangen. Mit der feierlichen Schlüsselübergabe an sechs Hausprojekte, die sich über einen Trägerverein zu einem „Nachbarschaftsheim für Interkulturelle Begegnung - ORA 34“ zusammengeschlossen haben, endete eine siebenjährige Planungs- und Bauphase. Nach endlosem Hickhack zwischen Bau und Gesundheitssenatsstellen, die die Finanzierung voneinander abhängig machten, kam das S.T.E.R.N. -Sanierungsprojekt, mit 3,7 Millionen DM vom Bausenat gefördert, doch noch in die Pötte. Das jahrelang leerstehende ehemalige Stammhaus der Schuhfabrik Leiser sollte noch in den Siebzigern der geplanten Südtangente zum Opfer fallen, bevor es 1982 vom Landeskonservator als „Dokument der Kreuzberger Mischung“ entdeckt wurde. Da das Gebiet wegen schlechter Erschließbarkeit für rein gewerbliche Zwecke nicht mehr genutzt werden konnte, funktionalisierte die IBA das Haus zum soziokulturellen Anlaufpunkt für einen damals infrastrukturell schlecht versorgten Bezirk. Das geplante „Türkisch-Deutsche Kulturzentrum“ schob sich wegen ungeklärter Finanzierung so lange hin, bis ohne Multikulturalität nichts mehr ging: Seit 1887 bastelten die Nutzergruppen an einer „multikulturellen Werkstatt“ mit nachbarschaftsorientiertem Ansatz. Aus der Rolle des „Problems“ für die Rechten und der „Opfer und Sozialfälle“ für die liberalen Linken will man endlich heraus und das Zusammenleben der Nationalitäten selber organisieren. So erklärt sich auch, daß die Multikultur bei genauerem Hinsehen vor allem türkisch-deutsch ist: In den sechs Etagen arbeiten das Türkische Kultur Ensemble Diyalog, die MOSAIK Jugendkulturetage e.V., der Türkische Elternverein, der Verband binationaler Partnerschaften, die Gesellschaft Türkischer Mediziner und schließlich die Stadtteilinitiative Kotti e.V., die im Erdgeschoß einen „Familiengarten“ einrichten will, um den türkischen Männercafes etwas entgegenzusetzen. Aber plötzlich gab es mit dem Mauerfall mehr Multikultur als geplant. Wolfgang Hahn vom Kotti denkt nun an Arbeitspartnerschaften mit DDR -Sozialarbeitern, an Technik- und Know-how-Transfer im Austausch gegen eine „ungeheure Motivation“, die zur Reflexion gegenüber eigenen Ansätzen zwingt.

Doch beim rasanten Anstieg der Gewerbemieten nach dem Mauerfall dürfte ein solches Projekt eines der letzten gewesen sein. „Heute wäre die Auseinandersetzung um die Nutzung als soziale Einrichtung wesentlich schwieriger. Heute würde es gewerbliche Interessenten für dieses Haus geben“, sagt Nagels Planungsreferent Fuderholz. Somit kämen auch auf öffentliche Einrichtungen, die soziale Stätten finanzieren, in Zukunft in der Konkurrenz gegen die übrigen Gewerbemieter höhere Kosten zu. S.T.E.R.N. ist zwar interessiert an „guter Durchmischung“, doch soziale und kulturelle Projekte „brauchen oft große Flächen und haben wenig Mittel zum Ausbau“. Ein neues Instandsetzungs- und Modernisierungsgesetz soll Eigentümern ermöglichen, auch für Gewerbeausbau öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen, womit eine Mietpreisbindung gekoppelt sein soll. „Aber man kann sich davon keine Wundermittel erhoffen“, meint Fuderholz. Der Antrag liegt im Ermessen der Eigentümer.

DoRoh