Frontal, alleine, winzig

■ Chantal Akermans „Histoires d'Amerique“ - Ein Film über das Erzählen

Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald, und dort, am Fuße eines Baumes, immer desselben, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte immer dasselbe Dorf. Er wußte nicht mehr, wo der Baum war, so betete er am Fuß irgendeines Baumes, und Gott hörte ihn. Sein Enkel wußte weder, wo der Baum noch der Wald noch das Dorf war. Aber er kannte das Gebet. So betete er in seinem Haus. Und Gott hörte ihn. Sein Ururenkel kannte weder den Baum noch das Dorf noch die Worte des Gebets. Er kannte noch die Geschichte, er erzählte sie seinen Kindern. Und Gott hörte ihn! Meine eigene Geschichte ist voller Lücken, und ich habe nicht mal ein Kind.“ „Und deshalb sammelte ich Geschichte und ließ sie vor der Kamera erzählen“ - so müßte das Gleichnis enden, das Chantal Akerman selbst aus dem Off spricht, während die Kamera zu Beginn auf das nächtliche New York zufährt.

Wer nicht spricht, wird auch nicht gehört, und wer keine Geschichten hinterläßt, unterbricht die Kontinuität der Erfahrungen. Unbewegt steht die Kamera irgendwo weit hinter den Hochhäusern der Stadt, eine Szenerie wie auf einer Theaterbühne. Eine Frau erzählt, wie sie beim Tod ihres Mannes plötzlich allein im fremden Amerika in die Arme eines Freundes fällt. Sie hat keine Nachricht von ihrer Familie in Polen, weiß nicht, ob sie noch lebt.

Ein junger Mann berichtet von seiner Anpassung und davon, wie er seine Verlobte aus Polen nach Amerika holte, wo sie vor Kummer fast starb. Einer nach dem anderen erzählt seine Geschichte, gemeinsam haben sie das Schicksal der ersten Generation jüdischer Flüchtlinge, die vor dem Pogrom fliehen konnte. Frontal und alleine stehen sie vor der Kamera und erzählen, die Kamera erzählt nicht mit.

Histoires d'Amerique ist kein Erzählkino, sondern ein Film über das Erzählen, nicht nur der Versuch, die verlorenen Geschichten wieder zu finden, sondern gleichzeitig die verschüttete Tradition der mündlichen Überlieferung, Grundlage auch der literarischen Erzählung, neu zu beleben.

Walter Benjamin beklagte schon 1936 den Verlust der Erzähltradition: „Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher ärmer an mitteilbarer Erfahrung. (...) Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“

Chantal Akerman verzichtet in ihrem Rekonstruktionsversuch auf die Materialschlacht der großen Spielfilme und setzt nichts als den Menschen ins Bild. Die Serie der Porträts und Geschichten unterbricht sie durch inszenierte jüdische Witze.

Dann füllt sich das Bild, da sind die Menschen nicht mehr alleine. Auch die Kamera kommt in Bewegung.

Gunter Göckenjan

Chantal Akerman: Histoires d'Amerique. Frankreich/Belgien 1988, 97 Minuten