Die freie Wahl zwischen Pest und Cholera

■ Die fatale Abhängigkeit von der Braunkohle könnte der DDR eine atomare Zukunft bescheren

Die DDR steckt im Energie-Dilemma: veraltete Kraftwerke, verpestete Luft, riesige Energieverluste, Kraterlandschaften in den Braunkohlerevieren kennzeichnen die Lage. Der Westen bietet als vermeintlichen Ausweg Atomkraftwerke im Sonderangebot. Die gegenwärtige Führung wünscht sich AKWs Marke West statt Marke Ost. Kann und will die DDR widerstehen?

Für den Direktor im Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin (Ost) war schon Mitte Dezember alles klar: „Es gibt für die DDR außer der Atomkraft keine Alternative zur Braunkohle.“ Entweder das Land verfeuert seine Braunkohle noch hemmungsloser als bisher, nimmt den Anwohnern der Tagebaue weiter ihre Häuser, der Landwirtschaft das Grundwasser und allen die Luft zum Atmen oder es setzt bedingungslos auf Atomkraft. „Alles andere ist unbezahlbar“, wußte der Mann, der sich in Berlin (West) auf eine Veranstaltung der Alternativen Liste über künftige energiewirtschaftliche Optionen der DDR verirrt hatte.

Das Publikum - alternative Energiexperten aus dem Westen, Umweltschützer aus dem Osten - empfand die knallharte Alternative des Kombinatsdirektors als Wahl zwischen Pest und Cholera. Joachim Listing vom Neuen Forum will die Braunkohleförderung drastisch einschränken und dennoch auf neue Großprojekte, atomare allemal, verzichten. Statt dessen müsse ein „nationales Energiesparprogramm“ her. Allein von der konsequenten Einführung der Kraft-Wärme-Kopplung - das heißt dem Bau von Kraftwerksblöcken, die sowohl Strom als auch Heizwärme liefern - verspricht sich Listing ein Einsparpotential von 80 Millionen Tonnen Braunkohle pro Jahr. Doch angesichts der desolaten Umwelt- und Energiesituation im eigenen Land und der Einlassung des Ostberliner Kombinatsdirektors plagte den langjährigen Umweltaktivisten an jenem Freitag abend eine ganz andere Vorstellung: „Den Herren bei Siemens wird sicher schon ganz warm ums Herz.“ Und der West-berliner Energieexperte und Atomgegner Martin Jänicke warnte die AL-Basis recht unverhohlen, den Dauerstreit mit dem größeren Regierungspartner um die umstrittene Stromtrasse aus der Bundesrepublik bis zum St. Nimmerleinstag fortzusetzen. Jänicke: Die Gefahr, daß die darniederliegende westdeutsche Reaktorindustrie in die neue Absatzlücke im Osten stößt, sei „viel, viel brisanter als die Debatte über die Stromtrasse“.

Wie wahr. Vier Tage später sollten sich Listings Ahnung und Jänickes Mahnung bestätigen. Umweltschützer in Ost und West schreckte die Nachricht auf, die westdeutschen Stromkonzerne Preussen Elektra und Bayernwerk wollten vier 1.300-Megawatt -Reaktoren in der DDR plazieren. Jänickes Traum, nach drei bis fünf Jahren könne „die DDR aus einer energiewirtschaftlichen Notlage heraus innovativ werden“, war wieder ein Stück unwahrscheinlicher geworden. Wirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) hatte in Bonn zu früh geplappert und damit die Absicht der Energiestrategen in West und Ost vorerst zunichte gemacht, noch vor der Wahl in der DDR ohne öffentliches Aufsehen atomare Pflöcke einzuschlagen.

Insbesondere in Bonn trägt die an den Tag gelegte Eile leicht schizophrene Züge. Während die Regierung Kohl einerseits die SED-Genossen erst in die Opposition und dann zum Teufel wünscht, hält sie sie (nicht nur) in Sachen Atomenergie ganz offensichtlich für den verläßlichsten aller denkbaren künftigen Partner. Verwundern kann das eigentlich nicht. Denn die Blütenträume über die Segnungen der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomkraft waren von Anfang an systemübergreifend. DDR-Energiewissenschaftler prophezeiten dem Land Ende der fünfziger Jahre eine atomare Kraftwerksleistung von 20.000 Megawatt bis 1985 (1.830 Megawatt sind daraus geworden, der bislang letzte Reaktorblock ging 1979 ans Netz). Bis zur Jahrtausendwende sollten 83 Prozent der Kraftwerksleistung aus Atommeilern kommen - heute sind es um 10 %. Populär unterfüttert wurde die Euphorie der Fachleute durch Visionen von einem unerschöpflichen Energieangebot zum Nulltarif, atomar beheizten Polarregionen, blühenden Wüsten und klimatisierten Anlagen, in denen die allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeit nach gusto Sommer- oder Winterfreuden würde genießen können. Dazu sollten atomgetriebene U-Boote (zum Fischfang selbstredend), Eisenbahnen und Flugzeuge Raum und Zeit überbrücken.

Die gewaltige Lücke, die sich zwischen Wunsch und Wirklichkeit auftat, führte notgedrungen zur schrittweisen Reduzierung der gigantischen Pläne, nicht jedoch zur grundsätzlichen Abkehr vom eingeschlagenen Weg. Noch nach der Katastrophe von Tschernobyl sollten atomar betriebene Heizkraftwerke für Wärme in den Ballungszentren sorgen und entsprechend stadtnah errichtet werden. Und auch in den Eckpunkten für einen Planentwurf 1990, der immerhin eine Reduzierung der Braunkohleförderung zugunsten von Erdgas und Öl zur Stromerzeugung vorsieht, wird eher bedauernd auf die schleppende Umsetzung der AKW-Pläne verwiesen.

Was den Energieplanern in der DDR derzeit vorschwebt, ist also keine energiepolitische, sondern eine geographische und damit verbunden eine ideologische Wende: Weg von der wenig fruchtbaren Atomabhängigkeit von der UdSSR, hin zur westdeutschen Hochtechnologie. Das ist hart genug. Denn zu Beginn der Atom-Euphorie galt der Lehrsatz: „So wie das Zeitalter der Dampfkraft dem Kapitalismus gehörte, so gehört das Atomzeitalter dem Sozialismus.“ Als die ideologisch linksdominierte westeuropäische Anti-AKW-Bewegung, vermittelt über die Westmedien, auch im Osten eine wachsende Anhängerschaft fand, waren es plötzlich die Produktionsverhältnisse, die nach sozialistischer Lesart darüber entschieden, ob ein Reaktor gefährlich ist oder nicht. Mit Tschernobyl verschwand auch dieses Ideologiegebilde auf dem Müllhaufen der Geschichte.

Heimlich hatten sich die Energieplaner in der DDR längst dem Westen zugewandt. Der führende DDR -Wirtschaftswissenschaftler Harry Maier etwa verlangte schon 1986, bald nach seinem erzwungenen Weggang aus Ost-Berlin, West-AKWs für die marode Ostwirtschaft. Heute scheint das Konsens. Ein „weicher Energiepfad“ ohne Atomkraft, im Westen seit über zehn Jahren in zahllosen Szenarien vorgezeichnet, hat in der Vorstellungswelt der derzeit maßgeblichen DDR -Fachleute keinen Platz.

Man muß, meint der Generaldirektor des AKW Greifswald, Reiner Lehmann, die „vorliegenden Angebote westlicher Konzerne zum Bau gemeinsamer Kernkraftwerke sorgfältig prüfen“. Professor Steinberg, stellvertretender Schwerindustrieminister und damit neuerdings auch zuständig für die Energiewirtschaft, war Anfang Januar zu Gast im Westen. Gastgeber: AKW-Anbieter Preussen Elektra.

Gerd Rosenkranz