: „Nie daran gedacht, dieses Land zu verlassen“
■ Gespräch mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, über den 9.November, die Wiedervereinigung und Rechtsradikalismus in der DDR / „Das ist der übliche Verdrängungsprozeß, den wir seit Jahren bekämpfen“
taz: Wie haben Sie den 9.November 1989 erlebt?
Heinz Galinski: Das wäre leichter zu beantworten, wenn Sie mich gefragt hätten, wie ich den 9. November 1938 erlebt habe. Da stand ich hier in der Fasanenstraße und habe die brennende Synagoge gesehen. Der 9. November 1989 war ein Tag - ich will nicht sagen wie jeder andere, aber den habe ich am Fernseher erlebt. Ich will das Ereignis dieses Tages keineswegs schmälern, aber mich stört natürlich der Vorschlag, den 9.November zu einem nationalen Feiertag zu machen. Dagegen wende ich mich mit aller Entschiedenheit, nicht weil ich das Ereignis herunterspielen möchte, sondern weil ich drin einen gefährlichen Verdrängungsprozeß sehe. Es ist ja heute so, daß offiziell nur der 40. und 50. Jahrestag zur Kenntnis genommen wurde. Der 9. November 1938 würde absolut keine Rolle mehr spielen, wenn nicht wir - die jüdischen Gemeinden - Gedenkfeiern begehen würden. Und jetzt werden Vorschläge gemacht, zum Beispiel anläßlich der Maueröffnung eine Straße nach dem 9.November zu benennen. Stellen Sie sich vor, einer von uns, der die Pogromnacht am 9.November 1938 erlebt hat, steht jetzt vor einem Schild „Straße des 9.November“. Welche Gedanken werden diesen Menschen wohl bewegen...
Befürchten Sie, daß das Gedenken an die Reichspogromnacht nun vollends verschwindet?
Ja, unbedingt. Man ist ja schon sehr dabei. Wie gesagt, ich will das Ereignis der Grenzöffnung gar nicht schmälern. Hier ist etwas passiert, an dem man nicht vorbeigehen kann. Andererseits geht damit der übliche Verdrängungsprozeß einher, mit dem wir uns seit Jahren herumschlagen. Vergessen und Verdrängen wird seit Jahren von Politikern gepredigt.
In der DDR wird der Ruf nach Wiedervereinigung immer lauter. Wie bewerten Sie diese Tendenzen?
An sich wäre das ja ein natürlicher Vorgang nach all den Jahren. Auf jeden Fall muß man das Wort „Wieder“ streichen. Es wird nie mehr das sein, was es einmal war. Man kann von einer Konföderation sprechen oder von einer Vereinigung aber das ist noch ein langer Weg. Ich warne vor einem Alleingang, denn zuerst müssen die Voraussetzungen geschaffen werden - und die sind noch lange nicht gegeben. Man muß erst mal mit den Nachbarn und den Alliierten reden. Natürlich gibt es bei einigen Menschen und bei einigen Staaten Vorbehalte - nicht nur in politischer, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es gibt dazu eine öffentliche Meinung und es gibt eine veröffentlichte Meinung. Es ist nicht immer das wichtig, was offen ausgesprochen wird. Manchmal ist viel wichtiger, was nicht ausgesprochen wird. Und man bekommt eine Gänsehaut, wenn man hier gewisse Dinge mitbekommt, zum Beispiel die Aufmärsche und Transparente auf den Demonstrationen .
Überraschen Sie diese Tendenzen?
Antisemitismus und Neonazismus hat es immer schon gegeben in der DDR. Darauf habe ich bei meinem Besuch im Juni 1988 auch Erich Honecker hingewiesen - ganz im Gegensatz zu vielen anderen, die heute in vorderster Front der Opposition sind. Man soll nicht vergessen, daß ein Großteil der heutigen Oppositionsparteien ehemals Blockparteien waren und heute so tun, als ob sie nie daran beteiligt waren. Daran muß man einige Herren erinnern. Das Gedächtnis ist ja immer sehr schwach. Ich habe Herrn Honecker erklärt, daß ich nicht bereit bin, die DDR aus ihrer Vergangenheit zu entlassen, habe ihn auch auf Friedhofsschmierereien und andere Vorfälle hingewiesen.
Wie hat Honecker reagiert?
Gar nicht mal so abwehrend. Er sagte lediglich, er werde sich der Sache annehmen.
Das war im Juni 1988. Im November 1988 fand in der Volkskammer die Gedenkfeier zur Reichskristallnacht statt. Damals erklärte der damalige Volkskammerpräsident Sindermann, in der DDR gebe es keinen Antisemitismus - er hielt diese Rede in Anwesenheit von Vertretern der jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin...
Diese kleine Gemeinde war ja in einer schwierigen Situation. Es leben 150 Juden in Ost-Berlin und 150 in der DDR. Trotzdem sind da Dinge geschehen, die ich nicht teilen kann. Man kann gewisse Sachen nicht herunterspielen. Aber vielleicht muß man das aus der Situation dort in der DDR heraus sehen.
Sie haben vor kurzem auf die zunehmende Kooperation zwischen „Republikanern“ und rechtsradikalen Gruppierungen in der DDR hingewiesen...
Das hat doch Herr Schönhuber in Berlin bestätigt. Wenn ich ihm auch sonst wenig abnehme, aber das nehme ich ihm ab. Andererseits will ich auch nicht alle in die rechtsradikale Ecke drängen. Daß Menschen verärgert sind über die soziale und ökonomische Situation und sich auch aus diesem Grunde rechtsradikalen Gruppen zuwenden, das kann man vielleicht verstehen. Für mich ist dabei wieder erschreckend, wieviele junge Menschen sich davon angezogen fühlen. Auf einer Demonstration in Leipzig hat es bereits Ausrufe gegeben wie: „Gysi ist kein Deutscher“. Ich sympathisiere keineswegs mit Herrn Gysi. Aber wenn solche Ausrufe fallen, dann ist es schon wieder sehr weit gekommen.
Was muß in der DDR Ihrer Meinung nach jetzt geschehen?
Die DDR hat ein vierzigjähriges Defizit im Aufarbeiten der Geschichte. 40 Jahre sind nicht in ein paar Monaten nachzuholen. Das bedeutet eine Umarbeitung der Lehr-und Geschichtsbücher, der Unterricht muß umgestellt werden. Es sind ja Generationen junger Menschen ins Leben getreten, die nach einer Doktrin erzogen worden sind.
Nun beherrscht das Thema Neonazismus immerhin die Schlagzeilen in der DDR...
Für mich ist es schlimm, daß das Thema Neonazismus Anlaß zu Auseinandersetzungen in der DDR geworden ist. Und es ist besonders schlimm, daß dies vor den Wahlen passiert. Was ich besonders bemängele, daß es weder bei der provisorischen Regierung noch bei der Opposition in der DDR in dieser Frage irgendwelche Konturen gibt. Wenigstens in der Frage der Bekämpfung des Neonazismus müßte es einen Konsens geben.
Die Möglichkeit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist schneller, als viele erwartet oder auch befürchtet haben, in die öffentliche Debatte gekommen. Würden Sie in einem vereinigten Deutschland weiterhin leben wollen?
Ich lebe hier seit meiner Befreiung aus Auschwitz und Bergen-Belsen. Ich habe mir damals gesagt, wenn ich lebend aus dem KZ herauskomme, bin ich nicht mehr bereit, so zu leben, als ob nichts geschehen wäre. Ich habe mir damals vorgenommen, meinen Beitrag zu einer Demokratisierung zusammen mit den positiven Kräften zu leisten. Ich habe noch nie daran gedacht, aus diesem Grunde dieses Land zu verlassen. Man spricht ja viel von einem neuen Europa - und das ist meine große Hoffnung. Schließlich ist hier etwas vorgegangen, in der Sowjetunion, in der CSSR, in Rumänien und Bulgarien, was niemand so erwarten konnte. Ein vereinigtes Europa ist die beste Garantie, ist der beste Schutz, daß hier der Rechtsradikalismus nicht die Chancen erhält, von denen er träumt.
Das Interview führten Anita Kugler und Andrea Böhm
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