Der Tiananmen-Platz am Tag danach

Nach Aufhebung des Kriegsrechts ist der Platz des Himmlischen Friedens wieder frei zugänglich / Kein Anlaß zur Freude unter den Augen der Sicherheitsbeamten / Einzelne Versuchsballons von Studenten / Wirkliche Erleichterungen nur für ausländische Journalisten  ■  Aus Peking Boris Gregor

Die Luft ist eisig auf dem Platz des Himmlischen Friedens, doch die alten Männer, die nach chinesischer Tradition Papierdrachen fliegen lassen, sind wieder da. Und die Fotografen, die Touristen aus der Provinz ablichten, stehen wie vor einigen Monaten auf ihren Plätzen auf Kundenfang. Das Zentrum Chinas, das Symbol der Macht, der Platz des Protestes und seit dem 4.Juni vorigen Jahres der Ort der Trauer, ist seit gestern wieder frei zugänglich. Nur der Zugang zur Heldensäule, um die sich am 4.Juni bis zum Morgengrauen noch die Studenten drängten, ist nach wie vor gesperrt.

Um die mit einem Seil abgesperrte Säule stehen Schilder, auf denen die Stadtregierung mit roter Schrift die neuen Regeln verkündet: Alles ist verboten oder erfordert zumindest eine Genehmigung, was die Studenten nach dem Tod des früheren KP-Generalsekretärs Hu Yao Bang taten - und damit den Pekinger Frühling auslösten: Wandzeitungen zu kleben, Kundgebungen zu organisieren und Kränze niederzulegen.

Mit Freude haben die Pekinger gestern ihren Platz nicht wieder in Besitz genommen, die Stimmung ist beklommen und gespannt. Viele Worte wechseln die Besucher nicht, die auf die von Graffiti gesäuberte Säule emporschauen. Die Aufhebung des Kriegsrechts hat nicht viel geändert - kühl ist denn auch die Reaktion vieler Intellektueller. „Die Armee ist immer noch in der Nähe der Stadt“, sagt eine Bibliothekarin, „und demonstrieren dürfen wir sowieso nicht.“

Erleichterung gibt es nur für die ausländischen Journalisten: Sie brauchen ihre Recherchen nicht mehr im Außenbüro der Stadt Peking anzumelden und dürfen ohne Genehmigung Passanten auf dem Tiananmen-Platz interviewen. Doch kaum jemand wagt es, etwas Kritisches zu sagen. Denn unter die Besucher des Tiananmen-Platzes haben sich uniformierte und Zivilbeamte der „Gong An“, der „öffentlichen Sicherheit“, gemischt, die, zum Teil mit Kameras als Touristen getarnt, Aktionen gegen die Regierung im Keim ersticken sollen.

So wird ein junger Mann mit Sonnenbrille, offenbar Student, von zwei Uniformierten und vier Zivilen auffällig unauffällig beäugt, der sich auf ein kleines grünes Gitter gesetzt hat. Der Grund für die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbeamten liegt hinter ihm auf verblichenem Rasen: ein zusammengerolltes rosafarbenes Poster, schwarze Schriftzeichen sind erkennbar - ein Protestplakat?

Das Geheimnis bleibt ungelüftet, denn die Polizei wagt es offensichtlich nicht, das Papier zu kontrollieren und so womöglich einen Krach auszulösen. Schließlich klemmt der Mann die Rolle unter den Arm und zieht davon - die bizarre Szene löst sich auf. „Vermutlich“, bemerkt ein Besucher, „wollen die Studenten mit solchen Aktionen die Lage testen.“

Wer Herr des Tiananmen-Platzes ist, demonstriert die Staatsmacht am Tag der Öffnung überdeutlich. Immer wieder ziehen zur Mittagsstunde Kompanien Grünuniformierter im Gleichschritt über den Platz, um in der großen Halle des Volkes Essen zu fassen. Laut singen sie Lieder oder rufen sich Kommandos zu. Das Publikum betrachtet das militärische Spektakel schweigend.

Nur ein Mann sagt zu seinem Begleiter: „Schau, wie stark sie sind!“ Der ironische Ton ist nicht zu überhören, und auch Bitterkeit schwingt da mit.