„Ich habe ein Herz, das kräftig schlägt“

■ Jochen Gauck, Gemeindepastor und im Sprecherrat des Neuen Forums, über das Volk, Jesus Christus und was ihm scheißegal ist

Wir hatten uns verabredet bei der Eröffnung des Hauses der wiedererstehenden SPD, wo er der 'Konkurrenz‘ eine Pflanze und das Symbol des gewaltlosen Widerstands, eine dicke Kerze, überreicht. Ingo Richter vom SPD-Bezirksvorstand antwortet mit der Würdigung der Arbeit Gaucks, die lange vor der eigenen begonnen habe. Das Gespräch beginnt mit dem Staunen des Pastors über die Geschwindigkeit der Metamorphose zum Politiker.

Jochen Gauck: Es ist so ein Stück Wissen: Ich muß dies jetzt machen. Ich habe im Moment ein Gespür für das, was politisch notwendig ist. Und ich habe die Fähigkeit mit verschiedenen Menschengruppen so zu sprechen, daß sie mich verstehn. Und dann habe - ich ein Herz, das sehr kräftig schlägt. Und dann habe ich Lust, meine Gefühle mit anderen Menschen zu teilen. Und wenn die Leute das spüren, dann kriegen die Lust, mir zuzuhören, so wird das ein Regelkreis zwischen Menschen, die mich hören und die ich dann wieder höre. Und dann ergeben sich auch Möglichkeiten der Gestaltung. Daß die Revolution hier in Rostock so friedlich war, das ging auch von daher ganz leicht, weil wir die Gefühle von Zorn, Frustration, Enttäuschung und die Kampfbereitschaft mit den breitesten Kreisen des Volkes geteilt haben. Und wenn man dann sagte, wir wollen es so machen, dann hörten die plötzlich auf einen. Und dann entsteht natürlich auch ein Gefühl von Macht oder Verantwortung, wie Sie es nennen wollen.

Hat die Friedlichkeit zu tun damit, daß soviel Protestanten unter den Sprechern der Opposition sind?

Die Formulierung läd ein bißchen zur Ideologisierung ein. Ich möchte lieber von den Erfahrungen sprechen, die mir jetzt Authentizität geben. Ich habe in der Gemeinde, in der ich arbeite, seit fast 20 Jahren mit den Menschen zusammengelebt. Ich hab Unterricht in Kinderzimmern und Küchen gemacht und habe sehr viel mit jungen Menschen gearbeitet. Und in diesen Jugendgruppen hauptsächlich ist eine Atmosphäre des Vertrauens und des Gesprächs und der Wahrheit, des Wagens und des Hoffens entstanden. In einer derartig entfremdeten Umwelt auf solche Inseln authentischen Lebens zu stoßen, das hat ganz viele Menschen eingeladen, der Kirche neu zu vertrauen. Das ist letztlich die Haltung gewesen, die durch Jesus Christus in die Welt gekommen ist, die aus einem Wahrheitsbegriff erwächst, der nicht per Definition die Wahrheit meint zu fassen, sondern in der liebevollen Zuwendung zum Menschen. Oft ist das auch nur eine Art Leidensgemeinschaft gewesen. Aber dann war es wenigstens ein ehrliches miteinander-Traurigkeit-teilen. Aber das war einfach ehrlicher, als was in der Politik abging.

Sie bringen die DDR-Identität sehr mit Leiden zusammen. Wenn die Kirche gut gewesen ist in Leidenszeiten, früher gegen Unwetter und Cholera, später gegen die SED. Wie hilfreich ist sie in einer Zeit, in der entschieden werden muß, ob die Kombinate entflochten werden sollen und wie gewirtschaftet werden soll?

Wir haben ja nicht nur aus unserem Leiden gelebt. Wenn wir unsere Identität definieren, dann nicht mit jenem Stolz, den die SED uns immer einreden wollte. Sondern dann gucken wir, was wir erlebt und erlitten und erkämpft haben. Und ich hab natürlich auch etwas zu hoffen. Weil ich meine Hoffnung nicht aus Ideologien schöpfe, sondern aus der Art zu leben, die Jesus Christus gelehrt hat. Weil ich damit rechne, daß die Fähigkeit zur Liebe den Menschen hilft, emanzipatorische Gesellschaftsmodelle zu entwickeln.

Hat die Hoffnung etwas zu tun mit diesem schönen Sozialismus der Gründerväter und der Grundwerte, der jetzt immer beschworen wird?

Ich habe gesagt, damit ist hier kein Blumenpott zu gewinnen. Und wir werden alle dieses Sätze im Programm des Neuen Forums revidieren. Wir wollen ja gewählt werden. Im konkreten politischen Moment, jetzt, habe ich keine Lust, mich mit Intellektuellen über Sozialismus zu streiten. Ich suche nach Konzepten, die jetzt gesellschaftlich umsetzbar sind. Ob das einer bestimmten linken Schicht in der Bundesrepublik nun paßt oder nicht, dann stellt sich die Frage der Einheit und der Marktwirtschaft. Und wir wollen dieses System nicht verteufeln, sondern gucken, wie funktioniert es. Vor dem Guten kommt das weniger Schlechte. Und Sie merken, daß mein Herz da schlägt, weil mich die tollsten Frauen und Männer, mit denen ich sonst übereinstimme, immer, wenn ich was gegen den Sozialismus habe, zum Rechten machen. Und wissen Sie, das hat mich früher schwer gekränkt. Und dann habe ich immer versucht, sozialistisch zu sein. Jetzt ist mir das scheißegal. Ich beziehe mein O.K. nicht davon, wie mich bestimmte linke Freunde oder Presseorgane im Westen sehen, sondern von den Leuten, mit denen ich hier lebe. (...)Die kann ich nämlich nicht mehr 10 Jahre lang bewegen hierzubleiben. Das machen die nicht mit. Und deshalb muß ich konkret sagen: Hört zu, in 8 Jahren habt Ihr die Einheit, dann gibt es ein Bundesland Mecklenburg, sagen wir mal, und in fünf Jahren, da werden wir D-Mark verdienen und in 3 Jahren das. (...) Woher ich das weiß? Jeden Tag meines Lebens gehe ich mit Leuten um, die 8 3/4 Stunden arbeiten müssen, die hier einkaufen müssen, hier in dieser miserablen Volksbildung ihre Kinder zur Schule schicken müssen. Und ich sehe ihre Gesichter und daß ihre Gesichter anders aussehen als die anderer mitteleuopäischer Zeitgenossen. Und dann guck ich mir die Suchbewegungen des Volkes an, die nicht intellektuell artikuliert werden. Und da sehe ich jetzt drei. Über die Grenzen gehen, mein Land von außen angucken. Und: mich als Konsument erleben, d.h. ja auch irgendwo einen Traum von Unabhängigkeit und Fülle haben. Und die neue und unerwartete Bewegung: Wir sind ein Volk. Und auch hier teilt sich mit, kann man sagen, etwas von Protest gegen Honeckers Apparat, der ja noch regiert.(...) Und ich mißtraue allen Intellektuellen, die diese nichtausgesprochenen Elemente der großen dynamischen Bewegung nicht erkennen können. Und was passiert, wenn man es sich so einfach macht? Man landet allemal in der larmoyanten intellektuellen Ecke, wo man bestenfalls noch das Weinglas zu fassen kriegt und dem Freund ins Auge blickt und mit ihm weint, daß die Welt so schlecht ist. Das merken sie hier, ob das Volk intellektuellenfeindlich ist oder nicht. Aber das Volk hat eine Nase dafür, ob es genasführt wird oder nicht.

Interview: Uta Stolle

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