ROSTOCKER ANUNDFÜRSICHTEN

Vor der Wahrheit liegt die Wahrnehmung und vor der das Gefühl, und das ist manchmal mächtig einseitig / Sechs Tage im Januar  ■  Aus Rostock Uta Stolle

„Und wie gefällt Ihnen Rostock?“ fragt Fanny, und Nicole mit den neuen rosa Ohrenschützern betrachtet mich aufmerksam. „Gut,“ lüge ich, so gut es geht. Und dann erzählen die beiden Zwölfjährigen auch schon von Hamburg und Kiel und den großen Autos an jeder Straßenecke, die man die ganze Nacht ansehen kann, und gestohlen werden können sie auch nicht, weil so großes Glas davor ist.

Was soll ich ihnen denn bloß sagen über ihre Stadt, die eigentlich schön ist. Seit sechs Tagen ist es kalt, grau und ekelnorddeutsch. Das ist in Bremen genauso. Aber hier stinkt die Luft, bei Tag und bei Nacht. Braunkohle pestet aus den Schornsteinen und aus paar großen Schloten, die nicht zu Fabriken sondern Wohnanlagen gehören. Überall auf Straßen und Plätzen schlägt sich zäher, glitschiger, grauer Belag nieder. Auf meiner Haut auch, den wasch ich abends mit Wasser ab. Das stinkt, wenn es aus dem Hahn kommt.

Groß und strahlend wölbt sich der endlose Himmel über der Stadt, beginnt der Bericht des Rostockführers aus dem Bremer Temmen Verlag, die trotz der Spannung zwischen Weltoffenheit und Provinzialität niemals die leise Heiterkeit verliere. Die Autoren haben sich einen Sommertag zum Berichten ausgesucht. Der geringe Industrialisierungsgrad trägt dazu bei, daß die Luft im Vergleich zu anderen Gebieten in der DDR relativ wenig belastet ist. Das mag stimmen. Sie wird zwar durch Kohleheizungen und Autoabgase verschmutzt, lese ich weiter, durch die Ostseenähe und den Wind fällt dies aber weniger ins Gewicht. In wessen Gewicht? Schwierigkeiten beim Beschreiben der Wahrheit.

Tatsächlich ist in Rostock vieles weniger schlimm, „relativ“. Die backsteingotische Variante der stalinistischen Mammuts an der Langen Straße ist relativ wenig schlimm z.B., die Kröpelinger Straße ist restauriert, das Fünf-Giebel-Haus daran modern und schön gebaut. Aber unmittelbar daneben hört die Kraft auf,

dehnt sich nach Süden, Westen und Norden der Plattenneubau -Faustschlag in Beton und gen Osten die verslumten Altstadtviertel, beginnend hinter der Riesenglucke St. Marien, regiert von St. Petri und St. Nikolei, den riesig ragenden Trutz-und Schutzburgen der niedersächsischen und westfälischen Einwanderer ins wendische Land des 13/14. Jahrhunderts. Englische Bomber machten die Kirchen 1942 zu Ruinen, der DDR-Sozialismus den Stadtteil drumrum in den Jahren danach (vgl. taz-HB 6.1.89)

Sehen

Ich wußte, daß die Städte verfallen. Aber sehen ist anders. Jetzt stolpern mein Gefährte und ich abends aus der ausgestorbenen Fußgängervorzeigezone mit ein paar einsamen Alkis vorbei an Mülltonnen, aus denen Rauchfahnen runtergetragener Schlacke schwelen, über kaum abgedeckte Abgründe, die in den Gehsteigen klaffen, unter den schon oder noch nicht „freigezogenen“ Häusern den finstern Hügel zur Nikolaikirche hinan. Jeden Abend

ziehe ich aufatmend die Kirchentür hinter mir zu, lasse die Augen grasen auf den handwerklich verlegten schönen grauen und roten Steinen des Treppenhauses und verschließe die Dachluke gegen den nächsten Schlot. In das zerstörte Dach der Kirche sind Wohnungen für kirchliche Mitarbeiter und einige Gästezimmer hineingebaut worden, anständige Arbeit für das Geld der evangelischen Kirche Westdeutschlands.

Es fehlt an nichts

Vom Besorgen der Brötchen und der Milch morgens kehren der Gefährte und ich etwas unterschiedlich zurück. Er mit dem Satz, „daß es den Leuten hier an nichts fehlt.“ Ich stumm und überschwemmt von einer Woge peinvollen Mitleids angesichts der zerknitterten Frauen in den sauberen, abgeschabten Mänteln, mit Kopftüchern, dünn und taschentuchgroß unter dem Kinn geknotet, die in dem niedrigen Laden nebenan brav eine Schlange bilden, deren Windungen den winzigen Laden bald sprengen. Als ich dran bin, er

fahre ich von der tatsächlich noch freundlichen Frau in Kittelschürze, daß es Milch nicht gibt, aber bestimmt da unten bei der HO. Wie gesagt, den Leuten fehlt es an nichts.

Erwürgen

Bremen ist nicht weltoffen, aber im Vergleich zu Rostock schon. Aber wenn jemand von „unseren“ die hier als provinziell bezeichnen würde, den tät ich erwürgen. Denk ich, als ich am Freitagabend den Foxtrotttanzenden im Ratsweinkeller zusehe. Die Combo life, auf der Tanzfläche auch Leute in den Zwanzigern, die bei uns, wenn überhaupt, nicht sowas tanzen würden, ein Torrero in gebügelten Jeans und schwarzem Hemd, energetisch voll schmissig, alles tanzt „zusammen“, und alle haben sich richtig sonntäglich schön gemacht. Mit Rouge auf den Jochbeinen und Krägelchen und Besticktem und Paspelierten und in Rosa und in einem Falle einem extrem raffinierten kleinen Schwarzen.

Den Mann, den ich in der Ma

rienkirche anspreche, verrät sein ausgefallenes Barrett und der unauffällige Gabardinemantel drei Meter gegen den Wind als betuchten Westdeutschen. „Man sieht es den Leuten hier aber äußerlich nicht an, daß sie aus der DDR sind,“ sagt er. Daß die hier „etwas anders“ aussehen oder gar reden, würden nicht nur sensiblere Bundesrepublikaner gern leugnen. Denen hier geht das auch so. Ich sehe böse Blicke und Ausweichen, als eine Dame im Fuchspelz die Leute an der Ampel vor der Post in ihrem Objektiv fixiert. DDR-Identität ja, sowas kennen etliche von den Jüngeren, aber beim bloßen Hinsehen und Hören für DDR gehalten zu werden, darauf sind viele nicht scharf. „Ich habe mich so geniert,“ sagt die Frau, die bei den Norddeutschen Neusten Nachrichten die Artikel tippt, „als der NDR hier war und unseren Weihnachtsmarkt gefilmt hat. Was sollten die denn bloß filmen, der war doch so kümmerlich.“