OLYMPISCHER KUCHEN

■ Barcelona: Spekulation und Sanierung im Zeichen der fünf Ringe

Barcelona ist eine riesige Baustelle. Wo im Juli 1992 rund 15.000 AthletInnen und TrainerInnen untergebracht werden sollen, haben Bagger und Raupen ganze Straßenzüge plattgewalzt. Monatelang gähnte ein riesiges Loch in der sonst so dichtbesiedelten Stadt. Seit am 17. Oktober 1989 mit viel Brimborium der Grundstein gelegt wurde, wächst hinter dem gut bewachten Zaun das Olympische Dorf.

„Wir liegen gut in der Zeit und sind im Grunde schon fast fertig“, erklärt Montse Rovivosa, Pressesprecherin der VOSA, einer für den Bau der Sportlerunterkünfte gegründeten Firma. Die Arbeiten an der Kanalisation, den elektrischen Leitungen und vor allem am Schnellstraßentunnel seien so gut wie beendet. Laut Vertrag müssen bis zum Jahreswechsel '92 auch die zwei Bürohochhäuser und ein Luxushotel, der Segeljachthafen sowie die sechsstöckigen Wohnblocks und Einfamilienhäuser mit kleinen Gärten schlüsselfertig sein. Die verbleibende Zeit bis zum Startschuß wird für Inneneinrichtung und Sicherheitsmaßnahmen benötigt.

2.000 Familien sollen hier leben, wenn die Schnellsten der Welt nach der Olympiade ihre Koffer gepackt haben werden. Direkter Zugang zum Meer, einige Hektar Grünanlagen vor der Haustür und die allgemeine Wohnungsknappheit dürften den Verkauf der Sportlerunterkünfte nicht schwer machen. „Ganz billig werden die Wohnungen wohl nicht sein“, räumt Montse Rovivosa nach einigem Zögern ein - aber dafür gewinne der Stadtteil enorm an Attraktivität. „Ein vergessenes, den meisten Barcelonesen verschlossenes Gebiet, industriell veraltet und menschlich entwürdigend, entwickelt sich zu einem neuen Stadtkern und eröffnet den Zugang Barcelonas zum Meer“, heißt es in der Hochglanzbroschüre des Olympischen Komitees.

Die bisherigen Bewohner des Viertels zwischen Ostfriedhof und Zoo werden aber kaum noch in den Genuß ihrer veränderten Heimat kommen; sie leben inzwischen in Hochhäusern an der Autobahn, auf der der Verkehr nach Norden donnert. Nur noch eine städtische Sammlung von Photos, Videokassetten und Straßenplänen dokumentiert, wie die ehemaligen Bewohner einst das Viertel geprägt haben.

Im Zentrum von Poble Nou hat jemand in schiefen Lettern an eine Hauswand gepinselt: „Keine Spekulation mit der Olympiade“, und weiter unten steht: „Je näher die Olympiade kommt, desto größer die Repression.“ Kritiker des städtebaulichen Großprojekts fürchten, daß das Olympische Dorf der Anfang vom Ende des traditionellen Arbeiterviertels sein wird. „Enteignung ist gar nicht mehr nötig, wenn wir das Leben hier nicht mehr bezahlen können“, beschreibt Enrique, ein Bewohner des Viertels, die Situation. Die Mieten seien in den letzten Jahren um das Zwei- bis Dreifache gestiegen, und in der Avinguda de Bogatell sollen edle Läden und Restaurants Einzug halten. „Ausgerechnet hier, wo utopische Sozialisten im letzten Jahrhundert eine auf Gleichheit begründete Kommune planten, entsteht jetzt ein Wohnviertel, in dem wir keinen Platz mehr haben“, empört sich der junge Barcelonese.

Pläne zur Umgestaltung von Poble Nou liegen schon länger in den Schubladen der Verwaltung. Aber erst, als Barcelona im Oktober 1986 zur Olympiastadt gekürt wurde, schien eine Reihe von Hindernissen überwindbar zu sein. Die Einwohner wurden von der Stadt enteignet, entschädigt und umgesiedelt und die älteste Eisenbahnlinie Spaniens einige Kilometer in den Norden verlegt. Eine zum Teil im Tunnel verlaufende Schnellstraße soll das Gebiet mit dem Flughafen im Süden und den Autobahnen im Norden verbinden. 47.314 Millionen Peseten (rund 759 Millionen DM) kostet das Mammutprojekt; den Löwenanteil davon zahlt die Stadt Barcelona.

„Was in Poble Nou passiert, ist typisch für die Politik des Rathauses“, meint Juli Carbo von einer Nachbarschaftsvereinigung im Casc Antic, die sich gegen die Sanierungspolitik der Stadt wendet. Es werde versucht, die armen Bevölkerungsgruppen aus dem Zentrum in die Randgebiete abzuschieben. Das geschehe meist nicht durch offizielle Umsiedlung, wie jetzt im Fall des Olympischen Dorfes, sondern regele sich viel lautloser durch die Begünstigung privater Investoren. Juli Carbo gibt ein Beispiel: „Am Passeig de Picasso hat die Stadt zuerst einige alte Häuser enteignet und abgerissen, um dort Sozialwohnungen zu bauen. Als die Häuser fertig waren, sind sie wieder an private Besitzer verkauft worden.“ Auf diese Weise erhöhen sich nicht nur die Mieten in den Häusern selbst, sondern auch in der Umgebung.

Dieser Politik im Wege stehen allerdings noch häufig die alten Mietverträge. Wer vor Mitte der achtziger Jahre eingezogen ist, kann normalerweise nicht vor die Tür gesetzt werden. Diejenigen, die gar noch einen Vertrag vor 1956 abgeschlossen haben, leben seit über 30 Jahren ohne Mieterhöhung. Noch schützen diese Langzeitbewohner die Häuser vor Abriß und Spekulation. Da die Bausubstanz aber häufig in katastrophalem Zustand sei, könne das keine dauerhafte Lösung sein. 80 Prozent der Menschen in den alten Stadtteilen leben ohne Dusche oder Badewanne, und in 20 Prozent der Wohnungen gibt es nicht einmal eine Toilette. Malaria, Tuberkulose und Hepatitis kommen in diesem Gebiet dreimal so häufig vor wie im übrigen Barcelona.

„Wir haben eine große Studie erarbeitet, wie das alte Barcelona restauriert werden könnte, ohne daß die Leute wegziehen müssen“, erzählt Juli Carbo. Die zentrale Überlegung sei, die Bewohner an den Arbeiten zu beteiligen und so die Kosten möglichst klein zu halten. Aber im Gegensatz zu den Plänen fürs Olympische Dorf schlummert dieser Vorschlag noch in Schränken der Verwaltung. „Für solche Projekte gibt es in unserer Stadt nur sehr spärliche Mittel“, meint Juli Carbo. Vom olympischen Kuchen dürfen eben nur wenige abbeißen.

Annette Jensen