NEUES LEBEN IN ALTEN DÖRFERN

■ Spanische Gewerkschafter restaurieren verlassene Orte, um einen „turismo social“ aufzubauen

Auf keiner meiner Landkarten von Nordspanien ist der kleine Ort Ligüerre de Cinca verzeichnet. „Fahren Sie bis zum Kilometerstein 27“, hieß es am Telefon. Doch nach dem Stein brauche ich nicht Ausschau zu halten, denn das Ortsschild mit dem roten Symbol der sozialistischen Gewerkschaft UGT ist gar nicht zu übersehen.

An der Straße stehen vier Häuser sowie eine Bar. Zur eigentlichen Dorfruine laufe ich noch zwanzig Minuten. Als ich die baufälligen Häuser betrete und auf alte Werkzeuge, Medikamente und Betten stoße, komme ich mir vor wie auf einer Entdeckungsreise. So mancher Schatz wurde hier schon gefunden, berichtet mir Esteban aus Zaragoza. Er hat in Ligüerre während der Sommermonate ein Kinderzeltlager und zwei vierwöchige Workcamps für junge Erwachsene geleitet. Bei der Arbeit im „Palacio“ (so wird das größte Haus im verlassenen Dorf genannt) haben ein paar Workcamp -TeilnehmerInnen Silbermünzen gefunden. Vielleicht kommen die Münzen irgendwann einmal mit all den anderen Funden in das geplante Museum.

Vor mehr als 20 Jahren wurde Ligüerre de Cinca verlassen. Wo sich heute der Stausee befindet, waren früher die Felder der Bauern. Die UGT will dafür sorgen, daß wieder Leben in dieses Dorf einkehrt. Seit 1986 besteht ein Pachtvertrag über 99 Jahre mit der Provinzregierung. Zunächst richteten die Gewerkschafter in den Häusern an der Landstraße Büros, Schlafräume für Gäste und eine Bar ein. Die Erträge aus dem Kneipenbetrieb wurden gleich wieder in das Millionen Peseten verschlingende Projekt investiert.

Letztes Jahr feierte die UGT Richtfest in den Werkstätten und Unterrichtsräumen ihrer Escuela taller, einem Ausbildungsprojekt für Jugendliche im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Solche Schulen sind relativ neue Einrichtungen in Spanien, wo Ausbildungsstrukturen, wie sie bei uns die Regel sind, mit Lehrstellen und Berufsschulen, nicht existieren. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von fast 50 Prozent sind diese Schulen für viele junge SpanierInnen die einzige Chance, einen qualifizierten Beruf zu erlernen. Das Arbeitsamt und der Europäische Sozialfonds finanzieren diese Ausbildungsprojekte.

In der Escuela taller in Ligüerre de Cinca lernen 25 junge Frauen und Männer, viele von ihnen Ex-Drogensüchtige und Ex-Knackis, entweder MaurerIn, DachdeckerIn, ElektrikerIn, Zimmermann/frau oder SchmiedIn. Vier LehrerInnen bringen ihnen das theoretische Wissen bei. Den praktischen Teil lernen sie von den 20 Arbeitern, die, von der UGT angestellt, jeden Tag aus den umliegenden Dörfern nach Ligüerre kommen.

In Ligüerre werden nicht nur die alten Häuser restauriert. Ein Schwimmbad und ein Zeltplatz mit sanitären Einrichtungen sollen in diesem Sommer eröffnet werden. „Sozialer Tourismus“ heißt die Idee des Gewerkschaftsprojektes. Santiago, der Chef der UGT in Ligüerre, berichtet: „Diese Form von Tourismus ist für Leute gedacht, die nicht viel Geld haben. Letztes Jahr hatten wir unser erstes Zeltlager mit 150 Kindern. Die sanitären Anlagen waren allerdings nur ein Provisorium, und wegen der großen Trockenheit gab es an manchen Tagen Wasserknappheit. Doch in diesem Jahr werden wir auch dieses Problem gelöst haben.“

Nur 18 Kilometer von Ligüerre de Cinca entfernt, am Fuße der Pyrenäen Aragons, liegt das Dorf Morillo de Tou. 1985 wurde es von der kommunistischen Gewerkschaft (CC.OO.) gepachtet. Auch hier wird der turismo social praktiziert. Am Anfang gab es viele Freiwillige, die zum Teil täglich bis zu 16 Stunden am Aufbau der Einrichtungen arbeiteten. So auch der 71jährige Rentner Antonio Martinez, der besonders stolz auf den „Iglesia-Pub“ ist. Betritt man die Kirche, so dröhnt einem zunächst einmal Disco-Musik entgegen. Wer sich dann weiter vorwagt, glaubt seinen Augen kaum zu trauen: Ein Austellungsraum für „Schöner Wohnen“ ist nichts dagegen. Denn überall sitzen kleinere und größere Grüppchen von Menschen auf weißen Ledersofas oder anderen mit edlen Stoffen bezogenen Sitzgelegenheiten. Auch Kuschelecken für Liebespaare sind vorhanden, oder Kinder spielen dort, wo früher kleine Altare standen. Antonio sagt mit leicht kämpferischem Ton: „Nicht nur die Reichen wollen bequem auf modernen Sofas sitzen.“

Vor dem Kirchenpub auf der Plaza finden im Sommer allabendlich Spiele statt für alle, die Lust haben mitzumachen oder auch nur zuschauen wollen. Zweisprachig das Ganze, denn die CC.OO. in Morillo de Tou arbeitet eng mit den Kommunisten der französischen Gewerkschaft zusammen. Die Genossen aus Frankreich verbringen selbst ihren Urlaub in Morillo oder schicken ihre Jugendgruppen. Wer nicht auf dem Campingplatz „Primero de Mayo“ (1. Mai) zelten möchte, kann sich auch ein Zimmer mit Verpflegung nehmen. Ebenso wie in Ligüerre gibt es auch in Morillo eine Escuela taller, doch dort lernen die Jugendlichen einen ungewöhnlichen Beruf: „Guia de montana“ - BergführerIn. Wer Urlaub in Morillo macht, kann sich nicht nur Mountain-Bikes ausleihen, im Schwimmbad oder im See baden, sondern auch Exkursionen mit den BergführerInnen in Flüssen und Canyons machen oder sich den Weg für Klettertouren in den Pyrenäen zeigen lassen.

In Ruesta, einem weiteren verlassenen Dorf in der Provinz Aragon, restaurieren die Anarchosyndikalisten seit drei Jahren die Häuser. Ruesta ist eines der Pilgerdörfer auf dem Weg zum Heiligen Jakob nach Santiago de Compostela. In der ehemaligen Pilgerkirche im Dorf haben die letzten Jahre Schäfer mit ihren Schafen genächtigt. Geplant ist, wie in Morillo de Tou die Kirche zum sozialen Zentrum umzubauen.

Bei den vielen verfallenen Häusern werden zunächst einmal die Dächer gedeckt. Die Fassaden sollen stehenbleiben und so weit restauriert werden, daß die Häuser sicher begehbar sind. Auf die Frage, wie lange das noch dauern wird, meint Angel, einer der Organisatoren: „Zwischen zehn und 200 Jahre.“

Die Anarchosyndikalisten bekommen als kleinste der drei Gewerkschaften kein Geld aus dem Staatssäckel. Im Gegensatz zur kommunistischen und sozialistischen Gewerkschaft müssen die Anarchisten alles selbst aufbringen. Doch fürs nächste Jahr ist auch in Ruesta eine Escuela taller geplant. Dadurch bekommen sie wenigstens eine kleine Finanzspritze und vor allen Dingen ständige HelferInnen.

Verlassene Dörfer gibt es etliche in Spanien und besonders viele in der Region Aragon. Die Gründe liegen in erster Linie in der unter Franco eingeleiteten Wirtschafts- und Energiepolitik. Mit dem Wirtschaftsboom Anfang der sechziger Jahre entstanden überall in Spanien riesige Stauseeprojekte. Bewirtschaftete Äcker der Bauern und damit die Existenzgrundlage ganzer Dörfer wurden überflutet. Hinzu kam die ohnehin schlechte medizinische Versorgung auf dem Land und das Fehlen von Schulen.

Auch die Menschen in Morillo de Tou, Ruesta und Ligüerre de Cinca verließen aus diesen Gründen ihre Dörfer und mußten sich ein neues Zuhause suchen. Vielleicht kommen in Zukunft einige ehemalige BewohnerInnen wieder in ihre einst verlassenen Dörfer, ...um Urlaub zu machen.

Sabine Skalla