Der geheime Künstler

■ Rekonstruktion eines Gesprächs

Guten Tag.

Guten Tag.

Sie sind sicher der Freund von R., der an Kunst interessiert ist.

Und Sie sind der geheime Künstler.

Es ist ein wenig irritierend, jemanden zu treffen, der wirkt, als sei er an Kunst interessiert, und dann ist er tatsächlich an Kunst interessiert. Und dann ist es auch wieder nicht irritierend natürlich.

Ich denke, es ist nicht sehr schlimm, wie jemand zu wirken, der an Kunst interessiert ist. Es gibt sicher welche, die wirken, als seien sie an weit Schlimmerem interessiert als an Kunst, mir fällt nur gerade nichts ein. Aber es ist schön, daß Sie gekommen sind, R. meinte, sie kämen vielleicht nicht.

Hätte ich gewußt, daß Sie damit rechnen, daß ich nicht kommen würde, wäre ich wahrscheinlich auch nicht gekommen. Aber Sie hätten dagesessen und gewartet. Irgendwann wären Sie sicher gewesen, aber eine Weile hätten Sie wohl gewartet.

Ja. Sehen Sie eine Möglichkeit, über Ihre Kunst zu sprechen?

Sicher nicht. Aber Sie müssen nun wenigstens nicht mehr warten.

Ja. Sehen Sie eine Möglichkeit, über irgend etwas zu sprechen? Ich weiß, daß ich nun nicht mehr warten muß.

Sind Sie erkältet?

Nein, ich niese nur. Aber wieso möchten Sie nicht über Ihre Kunst sprechen?

Weil sie geheim ist. Ich dachte, das wüßten Sie.

Schon, aber wo ich nun nicht mehr warten muß, lohnt es sich vielleicht, nicht mehr zu warten. Wir könnten über Ihre Kunst sprechen, die Sie gemacht haben, bevor Sie begonnen haben, geheime Kunst zu machen.

Kennen Sie denn die Sachen?

Ich kenne die letzte Sache, die Sache in der Basilica.

Ja, das ist die letzte Sache, bevor es geheim wurde. Was wissen Sie darüber?

Wahrscheinlich so viel wie einer wissen kann, der nicht der Künstler ist.

Das interessiert mich, was einer wissen kann, der nicht der Künstler ist.

Das mit den Seidenpapieren weiß ich und in welchem Abstand sie aufgehängt waren und daß die Besucher aufgefordert waren zu blasen. Ich denke, es ging Ihnen um das Geräusch. Und die Basilica habe ich mir angesehen, und ich mag sie und das Gewölbe, und die Sache mit den Seidenpapieren schien mir naheliegend. Hoffentlich verletzt Sie das nicht.

Im Augenblick verletzt es mich nicht. Vielleicht später. Im Augenblick will ich wissen, was einer wissen kann über eine bestimmte Sache. Wissen Sie von meinem Scheitern?

Bezüglich der Sache in der Basilica?

Ja.

Als ich da war, war Markt, und es war ein ziemlich großer Lärm, und ich dachte, daß die Besucher blasen sollen und so das Geräusch kommt. Der Markt war einfach sehr laut.

Es war nicht das Geräusch vom Markt, das es scheitern ließ. Es waren die Besucher, die dachten, man müßte ganz feste blasen, und dann war da das Blasgeräusch. Das Geräusch vom Markt war ein anderes Geräusch, es war weiter weg, aber das Blasgeräusch gehörte nun dazu. Und das störte das Geräusch des Papiers. Nicht das Geräusch vom Markt, das war ein angenehmes anderes Geräusch.

Haben Sie versucht, dem beizukommen? Ich meine, haben Sie etwas gegen das laute Blasen unternommen?

Nicht wirklich. Ich dachte daran, die Arbeit nicht öffentlich zu haben, also keine Besucher, aber dann hätte es nur das Geräusch des Papiers gegeben, das, was Papier selber macht, ohne angeblasen zu werden, und das ist nicht mehr hörbar, nicht mehr einfach so. Und keiner hätte die Möglichkeit gehabt, sich zu mühen, es zu hören.

Führte Sie das zur geheimen Kunst?

Nicht nur das. Ist Ihnen das schon mit den Dufflecoats aufgefallen?

Mit den was?

Mit den Dufflecoats. In diesem Winter ist es modisch in Italien, Dufflecoats zu tragen, das sind diese halblangen Wollmäntel mit den Kapuzen.

Ich kenne Dufflecoats natürlich, aber Ihre geheime Kunst

Ich möchte nur etwas allgemeiner beginnen, und vielleicht ende ich bei der geheimen Kunst.

Meinetwegen. Ich bestelle mir nur noch etwas zu trinken. Möchten Sie auch etwas?

Ich versuche gerade, Ihnen etwas zu erklären. Ich kann das natürlich auch bleiben lassen, es liegt mir nicht sehr viel daran.

Nein, bitte, erklären Sie, erklären Sie.

Da sind also die Dufflecoats. Zuerst sind Sie in den Schaufenstern. Nein, zuerst werden sie getragen von solchen, die im Ruf stehen, elegant zu sein, und dann tauchen sie in den Schaufenstern auf, und dann werden sie getragen von den Menschen. Das geschieht in einer kleinen Zeit, vom Herbst an, und jetzt ist Dezember, und alle tragen Dufflecoats.

Ich erinnere mich an einen Sommer in Italien, da war es modisch, keine Socken zu tragen, und die Hosen waren zu kurz, daß man die Knöchel sah, und alle waren irgendwie lässig mit den Hemden.

Auf was ich hinauswill, ist, Ihnen deutlich zu machen, daß Italiener modisch sind, und es ist wunderbar, wie es immer funktioniert, das mit den Dufflecoats oder das mit den lässigen Hemden.

Kommt jetzt die geheime Kunst?

Noch nicht, aber es geht vorwärts, glauben Sie mir. Das mit den Dufflecoats ist nur ein Beispiel. Kein schlechtes, aber nur eines. Nun, Dufflecoats sind modisch, und alle tragen Dufflecoats. Dufflecoats sind eine Sache, und Kunst ist ziemlich die gleiche Sache, das meint, es funktioniert auf die gleiche Weise. Ein Kunstkritiker, der einen guten Ruf hat als Kunstkritiker, präferiert einen Künstler oder eine Kunstrichtung, dann kommt es in die Schaufenster, und dann sagen plötzlich alle Cucchi. Das ist nicht so schlimm, glaube ich, daß eine bestimmte Sorte von Bildern angeschaut wird und andere Sorten nicht. Man könnte ebensogut eine ganze andere Sorte sich anschauen.

Aber was ist mit der Qualität? Der Kunstkritiker hat einen Ruf zu verlieren.

Schauen Sie aus dem Fenster, nein, nicht jetzt, oder schauen Sie auf eine Wand oder schauen Sie einfach, und ein Bild kommt auf die Netzhaut, und Sie schreiben Kunst darüber.

Das ist die geheime Kunst?

Ich habe nicht mehr viel Zeit, und ich werde es zu Ende bringen. Ja, jetzt werde ich es zu Ende bringen, aber bitte unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß mich konzentrieren. Also Dufflecoats. Denken Sie an Dufflecoats und wie es funktioniert mit den Dufflecoats und der Kunst. Und nun mein Scheitern. Ich habe prima Bilder gemalt, und niemand hat sie sich anschauen wollen, weil kein Kritiker schaute, und ich habe weitergemacht und keiner schaute. Nie schaute einer, aber ich wollte berühmt werden natürlich. Und ich habe die Dufflecoats gesehen und wie es funktioniert mit ihnen und der Kunst. Und nun mein Scheitern. Die Duffle-coats sehend und wie es funktioniert, begann ich Cucchis zu malen, das ist nur ein Beispiel, aber ich begann, im Trend zu malen, und dann kam das mit den kleinen Skulpturen, und ich begann, kleine Skulpturen zu machen. Und ich nehme an, irgendwann hätte es funktioniert, aber ich war ungeduldig, und ich machte natürlich nach. Und nun kommt ein Sprung. Ich wollte mir einen Schutz schaffen, und den schaffte ich, daß ich sagte, keiner will meine Kunst sich anschauen und dann soll sie auch keiner anschauen. Und so kam das mit der geheimen Kunst als Schutz, und nun ist es nur noch geheime Kunst.

Und sie wird wahrgenommen?

Sie sitzen hier und Sie hätten eine Weile gewartet und Sie haben sich nichts zu trinken bestellt, und ich gehe in den Wald und ich komme wieder heraus, nachdem ich Kunst gemacht habe, und die Leute sehen mich in den Wald gehen und wieder herauskommen und sie wissen, ich habe Kunst gemacht. Und ich bin der geheime Künstler.

Und die Sachen?

Nichts. Es gibt keine Reste, und ich gebe keine Auskunft. Wenn es Leute gibt, die mir zuschauen, wie ich in den Wald gehe und wieder herauskomme, dann müssen sie die Kunst denken, wenn sie welche wollen. Oder sich Giotto ansehen. Kennen Sie Giotto? Giotto ist prima. Aber nun muß ich wirklich gehen. Auf Wiedersehen.

Bei der angesprochenen Arbeit mit Seidenpapieren handelt es sich um Il sorgere della luna, realisiert in der von Andrea Palladio entworfenen Basilica in Vicenza im November 1988. Das Gespräch wurde in Deutsch und Italienisch geführt, seine Rekonstruktion versucht diesem Umstand und der Beschleunigung des Gesprächs gerecht zu werden. Dufflecoats werden in Italien als Montgomerys bezeichnet.

Richard Nöbel