Verwirrspiel um Hungerhilfe in Äthiopien

Das Mengistu-Regime macht mit Hunger Politik / Am Horn von Afrika werden die Karten neu gemischt, und fünf Millionen wissen nicht, wovon sie satt werden sollen  ■  Von Hans-Werner Gemein

Kaum haben die Nachrichten über eine neue Hungersnot in Äthiopien die Weltöffentlichkeit erreicht, beginnt auch schon ein übles Verwirrspiel in einer nicht enden wollenden Tragödie. Seit mehr als 28 Jahren herrscht im Land Krieg zwischen den Befreiungsbewegungen von Tigray (TPLF) und Eritrea (EPLF) einerseits und der äthiopischen Zentralregierung andererseits. Die Militärmachthaber in Addis Abeba hatten diesen Krieg bei Übernahme der Regierungsgeschäfte 1974 von dem damals gestürzten Kaiser Haile Selassie als Erbschaft übernommen. Heute steht die „sozialistische“ Armeeregierung mit dem Rücken an der Wand. Staatschef Mengistu Haile Mariam ist offensichtlich bereit, in einem militärischen und politischen Endkampf noch einmal Hunderttausende zu opfern. Der Hunger als Waffe gewinnt dabei erneut an Bedeutung.

Hatte Mengistu im Frühjahr letzten Jahres mit großen Mühen und der freundlichen Unterstützung Erich Honeckers, bei dem er just zu Besuch weilte, noch einen Putschversuch von Teilen der Armee blutig niederschlagen können, so scheinen ihn jetzt die Einheiten von TPLF und EPLF in große Bedrängnis zu bringen. Aus Tigray mußten sich seine Truppen vollständig zurückziehen, in Eritrea halten sie nur noch wenige Städte. Die TPLF stieß vor wenigen Tagen sogar bis auf 120 Kilometer Luftlinie bis an die Hauptstadt Addis Abeba vor.

Die Moral in Afrikas größter Armee läßt merklich nach. Ganze Truppenteile wurden bei den Gefechten von TPLF und EPLF gefangengenommen. Den Eritreern wurde unterdessen das Heer der Kriegsgefangenen zuviel: 10.000 sollen demnächst nach Hause geschickt werden, die ansonsten in dem von Dürre und Hunger ohnehin geplagten Eritrea weiterhin durchgefüttert werden müssen. Was die äthiopische Armee mit ihren Heimkehrern machen wird, ist freilich ungewiß. Vor einiger Zeit noch bestand die Gefahr, daß sie an die Wand gestellt werden als Deserteure und unliebsame Augenzeugen eines Krieges, den es nach offizieller Lesart gar nicht gab. Nach Aussagen des Londoner Büros der EPLF können sich die jetzt und in Kürze Freigelassenen in befreiten Gebieten Äthiopiens dem Zugriff der Zentralregierung entziehen. Jetzt würde Mengistu sie vermutlich mit offenen Armen aufnehmen und sofort wieder in den Kampf schicken. Seine „Personaldecke“ bei den Truppen muß jedenfalls inzwischen sehr dünn sein. In den letzten Wochen und Monaten sind Zehntausende neuer Rekruten ausgehoben worden: darunter Kinder und alte Männer. Dieser „Volkssturm“ wird jetzt in dreimonatigen Schnellkursen fürs Töten und Sterben fitgemacht. Im März, so ist in Addis Abeba zu hören, soll es dann wieder gegen die Rebellen nach Norden gehen.

Allerdings bereitet das Aufstellen einer neuen Armee den äthiopischen Machthabern reichlich logistische Probleme. Doch die wissen sich zu helfen: Kurzerhand wurden die Lastwagen der staatlichen Entwicklungs- und Katastrophenhilfsorganisation (Relief and Rehabilitation Commission/RRC) konfisziert und werden nun als Truppentransporter eingesetzt. Derweil verrotten im Hafen von Assab geschätzte 90.000 Tonnen Nahrungsmittel, die nicht in die Hungergebiete verfrachtet werden können. In der Nähe der Ortschaft Nazareth in Zentraläthiopien wurden die größten Lagerhallen des Landes zu Behelfskasernen umfunktioniert. 40.000 Tonnen Getreide in Säcken stapeln sich jetzt unter freiem Himmel, gegen Rattenfraß und Feuchtigkeit nur notdürftig geschützt. Es muß wohl angenommen werden, daß auch diese von internationalen Organisationen und Regierungen gestifteten Nahrungsmittel zur Versorgung der Truppen und nicht in den Dürregebieten eingesetzt werden.

Zu diesem Mißbrauch schweigen - fast - alle: Das Welternährungsprogramm der UNO weiß angeblich von nichts, die Kirchen halten sich zurück. Bonns Botschafter in Addis Abeba und der dortige EG-Vertreter loben Mengistus Regierung gar in höchsten Tönen, weil diese zugesagt habe, Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter über einen eigens einzurichtenden Korridor in die Dürre- und Hungergebiete Eritreas und Tigrays frei passieren zu lassen. Gewiß, der äthiopische Außenminister hatte zwei Tage vor Weihnachten vor dem Diplomatischen Korps diese Möglichkeit in Aussicht gestellt. Doch bislang ist nichts dergleichen geschehen. Schlimmer noch: Die Vertreter der Hilfsorganisationen dürfen derzeit die Hauptstadt nicht einmal verlassen, um sich in Richtung Norden zu bewegen. Wer sollte da wohl die Verteilung kontrollieren? Und wer ist so blauäugig anzunehmen, daß ausgerechnet jetzt, wo die militärische Lage für die Zentralregierung außerordentlich ungünstig steht, die seit vielen Jahren vergeblich erhobene Forderung nach freier Passage für Hilfskonvois erfüllt und damit die Versorgung der Gegenseite erleichtert wird? Ohne internationalen Druck, wie ihn kürzlich die Vorsitzende der Deutschen Welthungerhilfe Helga Henselder-Barzel forderte, wird sich da wohl wenig tun.

Merkwürdig mutet die auffallende Kritiklosigkeit der Bonner und Brüsseler Vertreter in Addis Abeba an. Kein Wort von ihnen zu der Frage, wie denn Transport und Verteilung der von den Vereinten Nationen und der äthiopischen RRC geforderten Nahrungsmittelhilfe von 1,1 Millionen Tonnen in den Kriegsgebieten ernstlich sicherzustellen seien. Wo Lager - und Transportkapazitäten fehlen, weil sie für die Kriegsführung mißbraucht werden, ist es mit der Entsendung von Lebensmittelschiffen in die Häfen Assab oder Massawa nicht getan.

Diese Probleme werden wohl für die westlichen Regierungen eher zweitrangige Bedeutung haben. Ihre merklich vorsichtige Politik gegenüber Mengistu wird nur verständlich bei einem Blick auf die sich verändernde politische Weltkarte: Die DDR, bis vor kurzem dank eines gewissen Herrn Schalck -Golodkowski zuverlässiger Waffenverkäufer, hat die Lieferungen inzwischen eingestellt. Aus Moskau sind Signale zu vernehmen, daß Gorbatschow wohl nicht daran denkt, sich über 1991 hinaus, wenn die vertraglichen Vereinbarungen auslaufen, von Mengistu einspannen zu lassen. Da muß sich der „sozialistische“ Militärmachthaber in Addis Abeba nach neuen Verbündeten umschauen. Eine willkommene Gelegenheit, die Einflußsphären am Horn von Afrika neu zu gestalten. Einen neuen Partner hat Mengistu bereits gefunden: Israel, das jetzt leichte Waffen und Munition schickt. Davon verspricht sich Tel Aviv vor allem zwei Dinge: Ausreisegenehmigung für die Falaschen, eine judäische Minderheit im Vielvölkerstaat Äthipien, und die Eindämmung des wachsenden arabischen Einflusses in dieser Region. Arabische Regierungen wiederum zählen zu den Unterstützern vor allem der EPLF. Hinter dem Verwirrspiel um die Nothilfe werden also die Karten der Macht neu gemischt.

Derweil befüchten die Hilfsorganisationen eine Hungersnot mit schlimmeren Ausmaßen als die von 1984/85, als eine Million Menschen den Hungertod starben. Jetzt haben schon wieder schätzungsweise fünf Millionen nichts zu essen, weitere werden in den nächsten Monaten hinzukommen. Wie ist ihnen beizustehen, ohne damit ein abgewirtschaftetes Militärregime zu unterstützen? In dieser Situation haben sich einige nichtstaatliche Hilfswerke entschlossen, unter Umgehung von RRC und der Regierung in Addis Abeba ihre Lebensmittelspenden auf dem Umweg über den Sudan in die Hungergebiete des nördlichen Äthiopiens zu schaffen. Ein Weg, der länger dauert und teurer ist als der direkte und über den nur ein Bruchteil der benötigten Güter transportiert werden kann. Wichtig, aber nicht ausreichend. Um satt zu werden, braucht Äthiopien den Frieden.