Müdigkeit und Erschöpfung

Thesen von Antje Vollmer zur Lage der Grünen, 10 Jahre nach ihrer Gründung  ■ D O K U M E N T A T I O N

Eine Bestandsaufnahme der teils selbstgemachten, teils außenbedingten Faktoren für den jetzigen Zustand der Grünen ist notwendig. Er ist am präzisesten beschrieben durch den Ausdruck: Müdigkeit und Erschöpfung.

These 1: Die Grünen sind erwachsen geworden, in der politischen Landschaft der Bundesrepublik werden sie aber weiterhin in die Schmuddelkinderrolle gedrängt. Die bundesdeutsche Politik braucht aber einen Generationswechsel.

Neben vielen anderen erstaunlichen Aspekten in den Revolutionsbewegungen Mittel- und Osteuropas ist dort überall ein radikaler Generationswechsel festzustellen. In Polen, in der CSSR, in Rumänien, in der DDR und in gewissen Grenzen auch in der UdSSR sind es teilweise die Personen, auf jeden Fall aber die Ideen der 68er Zeit und der beginnenden Friedens- und Ökologiebewegung, die in erheblichem Teil die Schlüsselstellung der politischen Macht besetzt haben. Sie bestimmen auch die Thematik, sie haben vor allen Dingen den sanften, basisdemokratischen und pazifistischen Charakter der politischen Bewegung und Umwälzung bestimmt. Es ist zu fragen, warum die Generation der 68er und 78er in der Bundesrepublik faktisch auf die Oppositionsrolle festgenagelt ist und selbst in den geringfügigen Versuchen, die offizielle Politik zu gestalten, erheblich behindert wird. Bei aller Selbstkritik, die angebracht ist und zu der westdeutsche Linke schon aus eigenem Antrieb neigen: Es kann nicht nur an unserer politischen Dummheit liegen, nicht nur an unseren mangelnden Erfahrungen und deren mangelnder Verarbeitung. Die Zähigkeit, mit der sich die hiesige Politikergeneration gegen einen ehrlichen Kompromiß mit den Ideen und Personen der 68er Generation sträubt, muß eigene Ursachen haben. Sie hat nicht nur mit der nachkriegsdeutschen Schnelligkeit, sich von der Vergangenheit abzuwenden, zu tun, sondern auch mit der Unersättlichkeit, den ununterbrochenen Modernisierungs- und Fortschrittsphasen in der Geschichte der Bundesrepublik. Das ständige Pochen auf der Größe des von dieser Generation westdeutscher Politiker Geleisteten, das permanente Pochen auf der eigenen Lebensleistung, die von uns ja nicht bestritten wird - dies ähnelt milieumäßig durchaus manchmal dem Gehabe, das SED-Politiker an den Tag zu legen pflegten.

Unser Anspruch darauf, das Gesicht dieser Republik eigenständig zu gestalten, ohne daß wir das von den anderen Parteien bisher geleistete in Bausch und Bogen als schlecht qualifizierten, ist faktisch nie ernst genommen worden. Die bestehenden Parteien haben einerseits die Grünen ungeheuer aufgewertet, weil sie uns als totale Infragestellung verstanden haben (jedenfalls seit den Zeiten der Studentenrevolte und seit dem Deutschen Herbst) und als Eindringlinge in ihre geschlossene Parteiengesellschaft. Als Folge dieser Überbewertung aber haben sie uns dann schleunigst total als „politikunfähig“ abgewertet, um sich möglichst schnell davon abtun zu können. Was sie dabei besiegen, ist allerdings ihr eigener Homunkulus. Wem sie dabei ständig ausweichen, ist die radikale ökologische und demokratische Infragestellung, die Überlebensfrage, die durch die Partei der Grünen an sie herangetragen wird.

Konsequenz: Die vorherrschende Haltung uns gegenüber war: Gebt uns Eurer Bestes, das sind Eure Ideen und Fragen, und dann verschwindet möglichst schnell, denn wir beherrschen die praktische Politik sowieso besser als Ihr. Eine ehrliche Bereitschaft zu einem fairen Systemkompromiß zwischen den herrschenden Parteien und den Grünen hat es bis heute nicht gegeben, noch nicht einmal bei der SPD.

These 2: Aus dieser Rolle sind die Grünen immer nur dann herausgekommen, wenn sie machtpolitisch als Bedrohung gesehen wurden.

Dieses durchgängig gönnerhafte bis abschätzige Verhalten gegenüber den Grünen ändert sich regelmäßig, wenn die Grünen ernsthaft als Teil einer möglichen Machtkonstellation ins Blickfeld rücken: Sei es nun durch eine zu erwartende rot -grüne Mehrheit, durch eine Ampelkoalition oder durch Wählervoten, die eine Regierungsbeteiligung der Grünen auch für sozialdemokratische Dachlattenschwinger unausweichlich machen. Die Essential-Forderung an die Grünen hat hier ihren Ursprung, weil die Sozialdemokraten von ihrem eigenen Image (Die Grünen sind absolut politikuntauglich) vor den Wähler wegkommen mußten, was in der Regel durch erzwungene Verbeugungsrituale der Grünen hergestellt werden sollte. Die Grünen waren auch großzügig genug, den Sozialdemokraten diesen Ausweg zu lassen. Wir müssen aber heute feststellen, daß die machtpolitischen Konstellation als Eingangstür für die Grünen meist eine Falle bedeutet. Die parteipolitische Revolution, die eine wirkliche Bereitschaft der regierungsbestimmenden Parteien in der Bundesrepublik für ökologische Themen hervorbringt, steht immer noch aus.

Diese faktische Veränderungsunwilligkeit der vorherrschenden Politik hat nicht zuletzt damit zu tun, daß das Status-quo- und Stabilitätsdenken in der bundesrepublikanischen Wahl-, Parlaments- und Medienlandschaft viel zuwenig politischen Wechsel ermöglicht, als daß von einer radikalen demokratischen Offenheit gesprochen werden könnte. Daß wir in spannenden Zeiten immer faktische oder geistige Große Koalitionen bekommen, hat hierzulande Tradition. Nur wer regelmäßig befürchten muß, selbst in die Opposition zu geraten, wird die Oppositionsbedingungen fair gestalten. Nur wer denkt, selbst einmal unten oder am Rande der Gesellschaft zu stehen, wird sich für deren Bedingungen interessieren. Von daher ist die 5 %-Klausel, der große nationale Konsens in vielen zentralen Fragen, das Fehlen jeder Tradition von offenen Parteikompromissen und wechselnden parlamentarischen Mehrheiten zunehmend eine Belastung für eine radikale Demokratie in der Bundesrepublik. Die Grünen, als am meisten randständige Partei, sind davon naturgemäß erheblich mehr betroffen als alle anderen. Gerade im Vergleich zu der demokratischen Risikobereitschaft in Osteuropa wird dies heute für jeden sichtbar.

These 3: An den Bedingungen der Opposition in der DDR sehen wir, was sein könnte und warum die Bundesrepublik demokratisches Entwicklungsland ist.

Warum hat die Oppositionsbewegung in der DDR, durchaus unerfahrener als die Grünen und keineswegs einheitlicher in den politischen Meinungen, derzeit eine völlig andere Rolle? Es ist nicht nur der Reiz des Neuen, es ist auch die konkrete Aussicht, daß sich alles zwischen oben und unten wandeln kann, die sich Karten neu mischen. Zeiten, in denen faktisch ein Gleichgewicht zwischen Opposition und Regierungsmacht bestehen, sind äußerst kreative und demokratisch fruchtbare Zeiten. Sie zwingen die Regierung, die Argumente der Opposition ernst zu nehmen, sie lehren sie täglich das Fürchten, wenn die Medien diese Argumente aufgreifen. Wer ernstlich um seine Zustimmung bei der Bevölkerung bangen muß, kann weniger Sprechblasen reden und muß den Verlust falsch angemaßter Macht fürchten. Eigentlich macht diese neue Zeit, die Neues überall hervorbringt, nicht am Brandenburger Tor halt, aber...

These 4: Es liegt mehr an der SPD als an den Grünen, daß dieses Kräftegleichgewicht in der Bundesrepublik immer noch nicht hergestellt ist.

Das Musterbeispiel für die Berechtigung dieser These erleben wir im Augenblick in der Deutschlandpolitik. In keinem anderen Fall war die Notwendigkeit so eindeutig vorgegeben, eine Alternative in der öffentlichen Debatte um den richtigen Weg in der deutsch-deutschen Entwicklung anzubieten. Erst wenn das Kräftegleichgewicht zwischen Regierung und Opposition um die richtigen Konzepte und die entsprechende Medienrepräsentanz gesichert wäre, wäre auch ein optimales Ergebnis denkbar gewesen. Statt dessen erleben wir faktische 85 %-Mehrheiten in der Parteienlandschaft für einen nationalen Kurs der Bundesrepublik und eine Medienresonanz für die Wiedervereinigungspläne des Bundeskanzlers, die von der 'Bild'-Zeitung über die 'FAZ‘ bis zum 'Spiegel‘ reichen. Das ist hochgefährlich für eine Debatte von Qualität, das macht die Regierung arrogant und die rechten Publizisten hochmütig. Das macht die Menschen taub für den anderen Teil der Wahrheit, den im Zweifel die Opposition und die kritischen Medien zu vertreten hätten. Natürlich hat die jetzige Lage die Notwendigkeit der Existenz der Grünen mehr als bestätigt, aber die Erfahrungen, mit diesen Anteilen der Wahrheit auch entsprechend repräsentativ einflußreich zu werden, sind eher frustrierend und verbitternd. (gekürzt)