Starke Unabhängigkeitsbewegung

Die massenhaften Demonstrationen in Litauen zeigen, daß die Forderung nach völliger Unabhängigkeit nicht mehr rücknehmbar ist. Nach einer Umfrage vom Oktober 1989 traten nicht nur 77 Prozent der Litauer, sondern auch 36 Prozent der Nicht-Litauer des Landes für sie ein. Gegen sie waren nur 1 Prozent der Litauer und 15 Prozent der Nicht-Litauer. Die anderen wollten mehr Autonomie oder hatten keine Meinung. Heute wäre das Bild wohl noch eindeutiger.

Noch vor eineinhalb Jahren sah die Situation ganz anders aus, die Unabhängigkeit zu fordern, wäre von atemberaubender Kühnheit gewesen. Für sie trat damals nur die bereits 1977 im Untergrund gebildete „Litauische Freiheitsliga“ ein, die, wie alle Dissidentengruppen, unbarmherzig verfolgt wurde.

Sajudis, die litauische Volksfront, begann sich erst im Juni 1988 als „Demokratische Bewegung“ zu formieren. Ihre Forderungen waren damals: ökonomische Unabhängigkeit, Litauisch als gleichberechtigte Staatssprache, eine unverzerrte nationale Geschichtsschreibung und der Schutz der Natur - alles Ziele, die im Rahmen der sowjetischen Perestroika Platz fanden. In den baltischen Ländern schien Gorbatschow jene Unterstützung zu finden, um die er unter der russischen Bevölkerung kämpfte.

Die gewaltsame Auflösung einer Demonstration für Unabhängigkeit im September 1988 führte zur Entmachtung der Konservativen. Parteichef Soingaila wurde von Brasauskas abgelöst, der sich schon zuvor in den Kreisen der informellen demokratischen Gruppen hatte sehen lassen. Nun nahm er Mitte Oktober 1989 unter großem Beifall am offiziellen Gründungskongreß der Sajudis-Volksfront teil und versprach die Rückgabe der Kathedrale von Vilnius, die bislang als Galerie und Konzertsaal gedient hatte, an die katholische Kirche.

Von nun an wuchs und radikalisierte sich die Nationalbewegung. Parteichef Brasauskas, der lange Zeit die gesamtsowjetische Konstellation im Auge behielt, um keine Schwächung der Demokratisierung und des Umbaus zu provozieren, wurde zum Getriebenen. Während er eine größtmögliche Autonomie innerhalb der Sowjetunion erstrebte und damit die Forderungen der Sajudis von 1988 fortführte, verlangte diese gemeinsam mit der katholischen Kirche seit Anfang 1989 die völlige Unabhängigkeit. Auf öffentlichen Versammlungen zum neu eingerichteten Unabhängigkeitstag am 16.Februar 1989, der die Staatsgründung von 1919 feiert, forderten in Kaunas mehrere Sprecher, darunter Kardinal Vicxentas Sladkevicius, die Trennung von der Sowjetunion.

Innerhalb der litauischen KP setzte sich Brasauskas durch. Nach dem sogenannten „Schwarzen Plenum“ des litauischen ZK, auf dem die Konservativen die Sajudis-Volksfront frontal angegriffen und das Verbot unabhängiger Publikationen und einen ideologischen Gegenangriff verlangt hatten, bekam die Parteiführung bei den Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten am 26.März und 9.April 1989 die Quittung. Die Volksfront gewann 39 von 36 Wahlkreisen. Die gesamte Partei- und Staatsführung fiel durch, nur Brasauskas und sein Stellvertreter Wladimir Beresow nicht, weil Sajudis in deren Wahlkreisen auf Gegenkandidaten verzichtet hatte.

Trotz der Vorsicht von Brasauskas arbeiteten KP und Volksfront letztlich in die gleiche Richtung. Im Mai beschloß der Oberste Sowjet Litauens eine Deklaration zur staatlichen Souveränität und ein Gesetz zur ökonomischen Souveränität, das seit Anfang 1990 in Kraft ist. Ein ZK -Plenum im Juni 1989 beschloß die Beseitigung der gesetzlichen Dominanz der KP und eine vollständige Demokratisierung des Landes.

Aber nun ging es Sajudis und mit ihr der Mehrheit der Litauer nicht mehr um Demokratisierung und Autonomie, sondern um den Austritt aus der Sowjetunion. Katalysator war der Fakt, daß der Anschluß des Landes ein Gewaltakt gewesen war, der aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1940 resultierte. An dieses finstere Geschichtskapitel erinnerte im August letzten Jahres eine gesamtbaltische Menschenkette, die vom estnischen Talinn über das lettische Riga bis zur Stadt Vilnius in Litauen reichte.

Die Partei- und Staatsführung mußte sich dieser Massentendenz anpassen, wollte sie sich nicht endgültig aus dem politischen Leben Litauens verabschieden. Eine Verfassungsänderung im Mai machte die Gültigkeit sowjetischer Gesetze von einer Ratifizierung durch die litauische Legislative abhängig. Nun stand das Recht der Republik über dem der Union. Anfang November wurde eine separate litauische Staatsbürgerschaft eingeführt, wie sie souveränen Staaten zukommt. Litauischer Staatsbürger ist danach, wer vor dem 15.Juni 1940 Bürger oder Einwohner Litauens war oder von solchen abstammt und ständig in Litauen wohnt. Wer jetzt dort wohnt, muß sich innerhalb von zwei Jahren entscheiden. Neue Zuwanderer können Litauer werden, wenn sie Litauisch sprechen, zehn Jahre im Land gelebt haben und die Verfassung des Landes kennen. All diese Verfassungsänderungen wurden von Moskau nicht anerkannt; Maßnahmen zu ihrer Aufhebung wurden aber auch nicht ergriffen.

Die Loslösung der litauischen KP von der KPdSU, die auf einem Sonderparteitag am 20.Dezember letzten Jahres entschieden wurde, setzt diesen Weg zur Unabhängigkeit letztlich nur fort. Aber gerade damit wurde der Nerv der Moskauer Zentrale getroffen, die die Genossen in Litauen bisher nur getadelt hatte. Seit dem ZK-Plenum Mitte Oktober, als der litauische Sonderparteitag beschlossen wurde, beschworen Gorbatschow und seine engeren Mitstreiter ihre litauischen Genossen, derartige Beschlüsse um ein Jahr zu verschieben. Im Herbst 1990 sollte auf dem Parteitag der KPdSU eh eine Umstrukturierung der Union beschlossen werden.

Erhard Stölting