Pogromstimmung in Aserbaidschan

■ Massaker an Armeniern in Baku / Mehrere Dutzend Tote in der sowjetischen Kaukasusrepublik / Berichte über Hubschrauberangriffe / Zwei Provinzstädte unter Kontrolle der Volksfront / Kundgebungen auch in Georgien / Verwaltungsgebäude in Tiflis besetzt

Moskau (dpa/ap) - Bei Unruhen in der sowjetischen Kaukasusrepublik Aserbaidschan sind nach Berichten vom Sonntag mehrere Dutzend Menschen getötet worden. Allein in der Hauptstadt Baku starben unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 22 und 30 Armenier bei Pogromen durch Aserbaidschaner. Auch aus anderen Bezirken wurden bewaffnete Zusammenstöße gemeldet.

Der Korrespondent von Radio Moskau berichtete aus Baku, bei einer von 150.000 Menschen besuchten Massenkundgebung am Samstag abend sei bekanntgegeben worden, daß eine armenische Familie in Baku einen Aserbaidschaner erschlagen und einen anderen verletzt habe. Daraufhin brach dem Bericht zufolge ein Rachefeldzug der Aserbaidschaner los. „Bei der Kundgebung wurde dazu aufgerufen, die Armenier aus der Stadt zu jagen“, sagte der Korrespondent. „Als die Versammlung endete, begann die Menge auseinanderzugehen. In der Menge wurden armenierfeindliche Parolen gerufen, und dann begann das Schrecklichste - die Pogrome.“

Dem Rundfunkbericht zufolge hatten am Samstag mittag zwei Aserbaidschaner eine armenische Familie aufgesucht und sie aufgefordert, Baku zu verlassen. Die Armenier griffen zur Axt. Die beiden Aserbaidschaner trugen bei der Auseinandersetzung Verletzungen davon und wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. Der eine starb, der andere schwebt in Lebensgefahr, wie es hieß. Ein Sprecher der nationalistischen aserbaidschanischen Volksfront, Alesker Sijabow, berichtete telefonisch nach Moskau, bei der Kundgebung sei die Schaffung eines „Rates für nationale Sicherheit“ beschlossen worden, der für den Schutz der Aserbaidschaner sorgen solle. Die Demonstranten hatten auch den Rücktritt der aserbaidschanischen Regierung gefordert.

„Bei Pogromen sind mindestens 30 Menschen ermordet worden. Einige Armenier wurden lebendig verbrannt“, sagte ein Mitarbeiter der armenischen Nachrichtenagentur telefonisch gegenüber 'dpa‘. Nach seinen Angaben forderten am Sonntag rund 400.000 Demonstranten in der armenischen Hauptstadt Eriwan Maßnahmen zum Schutz ihrer Landsleute in der Nachbarrepublik. „Bis jetzt waren wir ruhig, gibt es weitere Tote werden wir kämpfen,“ zitierte der Sprecher einen Kundgebungsteilnehmer.

Nach Angaben der sowjetischen Nachrichtenagentur 'tass‘ wurde am Samstag in der Hauptstadt von Berg-Karabach, Stepanakert, ein umfangreiches Waffenlager entdeckt. „Es gab zwei Granatwerfer, ein Maschinengewehr, 17 Gewehre und eine große Menge Sprengstoff, die in einem Flugzeug aus Eriwan gebracht worden sind,“ meldete 'tass‘. Das von Aserbaidschan verwaltete Karabach wird mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Der Agentur zufolge halten Auseinandersetzungen in der Region an. Am Samstag sei in einem von Armeniern und Aserbaidschanern bewohnten Ort eine Truppenunterkunft mit Maschinengewehren beschossen worden. Ein Gefreiter habe tödliche Verletzungen erlitten. Bereits am Donnerstag war in einem anderen Dorf ein Soldat erschossen worden.

Unter den Aserbaidschanern hatte Bericht der Armeezeitung 'Krasnaja Swesda‘ für Empörung gesorgt, nach denen mehrere Dörfer in der Region Hanlar mit Hubschraubern angegriffen wurden. „Orangefarbene Helikopter ohne Kennzeichen landen am Ortsrand und Dutzende von Bewaffneten schießen mit Schnellfeuergewehren auf die friedliche Bevölkerung“, hieß es in der Zeitung. „Als Truppen ein solches Kommando von rund 100 Mann in uniformähnlicher Kleidung zurückschlugen, hat es Tote und Verletzte gegeben“, berichtete die Zeitung des kommunistischen Jugendverbandes 'Komsomolskaja Prawda‘ am Sonntag.

Nach einem Bericht der 'Iswestija‘ wurden bei bewaffneten Überfällen in der aserbaidschanischen Region Schaumijan mindestens drei Dorfbewohner getötet und 14 verletzt. In dem Dorf Kutschtschu-Admawiri sei ein Kind getötet worden, als Unbekannte eine Granate in ein Wohnhaus warfen. Drei Frauen seien bei dem Anschlag verwundet worden.

Zwei Provinzstädte unweit der Grenze nach Iran sind nach Angaben der Armeezeitung von Sonntag weiter unter Kontrolle der Volksfront von Aserbaidschan. „In den Städten Dschalilabad und Lenkoran hat die Volksfront die Regierung übernommen“, sagte Nadim Ragimow, Sprecher der Organisation, am Samstag telefonisch der 'dpa‘. Die 'Iswestija‘ hatte berichtet, mehrere Regierungsgebäude und der örtliche Rundfunksender seien besetzt und ein „provisorisches Verteidigungkomitee“ gebildet worden.

Auch in der Hauptstadt der benachbarten Kaukasusrepublik Georgien haben nach Angaben der 'Krasnaja Swesda‘ vom Samstag Demonstranten für die Unabhängigkeit Georgiens mehrere Verwaltungsgebäude besetzt. Der öffentliche Nahverkehr der Millionenstadt war am Wochendende weitgehend zusammengebrochen. Neun Parteien und Volksfrontorganisationen hatten dem Bericht zufolge ein „Komitee zur Nationalen Rettung“ gegründet. Nach Angaben der Armeezeitung sammle ein „nationales Verteidigungskomitee“ bereits Freiwillige für unabhängige Einheiten.