Kofferträger mit neuem Namen

■ Die Sozialdemokraten der DDR ziehen mit dem Traditionsnamen SPD in den Wahlkampf / Von Matthias Geis

Die Namensänderung der Sozialdemokratie in der DDR war schon vor der Delegiertenkonferenz am Wochenende beschlossene Sache. Die Entscheidung wurde zur großen Feierstunde mit massivem Einsatz von Westprominenz. Das Wahlbündnis der Opposition blieb bei all dem Jubel auf der Strecke. Die „Einheit der Deutschen Nation“ wurde als politisches Ziel verankert.

Der historische Augenblick, der absolute Höhepunkt der SDP -SPD-Konferenz in Ost-Berlin wäre um ein Haar doch noch in einer Tragikomödie geendet. Verzweifelt mühte sich die Versammlungsleitung unter dem wachsenden Unmut der Delegierten, die eindeutigen Emotionen der Versammlung in einen Antrag zu kanalisieren. Die Rufe, endlich abzustimmen über das, was ohnehin schon vor dem Beginn der Versammlung feststand, wurden immer lauter. „SPD - ohne DDR, ohne jeden Zusatz, klipp und klar“, brüllte einer in den Saal, nachdem Geschäftsführer Ibrahim Böhme in hoffnungsloser Verkennung der Stimmung für eine präzisere Fassung des neuen Parteinamens - „SPD (DDR)“ - ans Rednerpult geeilt war und so für weitere Konfusion bei der Suche nach dem weitestgehenden Antrag sorgte.

Doch diejenigen, die trotz der wahlkampfwirksamen und identitätsstiftenden Übernahme des traditionsreichen Etiketts das „D“ im alt-neuen Namen an den bestehenden staatlichen Realitäten orientieren wollten, hatten keine Chance, mit ihren Bedenken durchzudringen. Der Vorschlag, SPD als „sozialdemokratische Partei der DDR“ zu lesen, erschien der Versammlung völlig abwegig. „Was die SED darf“

-nämlich ihr 'D‘ mit Deutschland übersetzen - „dürfen wir doch schon lange“, meldete sich das neue Selbstbewußtsein der Delegierten mit einem der Mehrheit wohl eher unbehaglichen Argument zu Wort.

Auch diejenigen, die angesichts der materiellen und personellen Dominanz der großen Schwester aus dem Westen um die junge Identität der DDR-Sozialdemokratie bangten, fanden wenig Gehör. Immerhin schickten die Gegner der Namensänderung den profiliertesten Rhetoriker aus den eigenen Reihen ans Pult. Mit der „Verschiebung des 'D‘ im Parteinamen“ werde die Spirale der deutschen Einheit vielleicht schneller angezogen, als vielen im Saal lieb sein könne, gab Thomas Krüger zu bedenken. Die SDP setze sich dem Verdacht aus, „politischen Prozessen vorzugreifen“.

Auch seine frechen Töne gegen die sozialdemokratische West -Prominenz fanden zwar viele Lacher, aber kaum Anhänger. Der Ost-SDP stehe die Rolle des Herzschrittmachers für die „ehrwürdige Partei“ in der BRD zu. „Doch wir müssen erst selbst laufen lernen, bevor wir uns zur Krücke der Schwesterpartei machen lassen.“ Mit der Namensänderung wachse die Gefahr, daß die Ost-Partei und ihre Mitglieder zu bloßen „Aktenkofferträgern“ der bundesdeutschen Sozialdemokraten degradiert würden.

Um 15.02 Uhr war die von vielen als lästig empfundene Debatte vorbei, die SDP unter frenetischem Jubel in SPD umbenannt. Ein Delegierter forderte die sofortige Beflaggung des Tagungsortes, der Kongreßhalle in Ost-Berlin, mit SPD -Fahnen aus dem Westen. Ein anderer kratzte eilig die Plastikbuchstaben von der Front des Rednerpultes und brachte sie in die richtige Reihenfolge. Einzelne Delegierte wollten es schriftlich haben, um es „ihren“ Basisgruppen nach Hause mitzubringen. Während sich bei einer ersten Abstimmung immerhin noch 24 Gegenstimmen fanden, blieb beim zweiten Votum nur noch eine Delegierte übrig. Warum die zweite Abstimmung überhaupt noch nötig war, wußte keiner.

Was die DDR-Sozialdemokraten da am Wochenende mit engagierter Beteiligung der Parteiprominenz aus dem Westen veranstalteten, war eine frenetische Feier, die Vorwegnahme der Einheit auf Parteiebene, die zumindest symbolische Wiederaufnahme der verschütteten und 40 Jahre lang unterdrückten Tradition. Doch was in großer, auf der Tagung oft bemühter Perspektive als historische Gerechtigkeit erschien, dürfte für viele Delegierte auch schlicht persönliche Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung bedeuten. Mit der Feierstunde am Alexanderplatz bekennen sie sich heute zu einer „in den dunklen Jahren“ verfehmten Tradition und schwimmen zugleich im zukünftigen politischen Mainstream der Republik. Die „Kontakte“ zur bundesdeutschen Schwesterorganisation vermitteln ihnen einen wonnigen Vorgeschmack auf das am Wochenende beschlossene Ziel ihrer Politik, die „Einheit der deutschen Nation“. Was sich die Delegierten von der West-Hilfe erwarten, brachte einer in drastischer Poesie auf den Punkt: „Der Stammbaum ist gut, aber trocken. Mit dem Saft aus dem Westen wird er blühen.“

So wollte der Jubel, mit dem Vogel, Rau, Momper und Bahr gefeiert wurden, nicht enden. Die Aura der Großen tröstete über die oft amateurhaft wirkenden rhetorischen Ungelenkheiten der eigenen Mannschaft hinweg. Johannes Rau sah sich gleich zu Anfang seiner Rede gezwungen, sein Politprofitum zu relativieren und seine Bewegung und Befangenheit auszudrücken. Das klang glaubwürdig. Alle West -Redner trafen mit ihrer Beschwörung der großen Tradition, des tiefen Unrechts der SED-Herrschaft und der Zukunftsträchtigkeit des SPD-Parteibuchs die euphorisierte Stimmungslage der Versammlung; dennoch versuchten alle mit bedächtig-nachdenklichen Einlagen die Balance zu halten und sich - ratgebend - zugleich von der Rolle des Vormunds zu distanzieren. Rau sah sich genötigt, die Anwesenden zur „Bodenhaftung“ zu ermutigen, die Nachdenklichen und die Aktivisten zusammenzubringen. Momper versprach, die angeforderten Parteifahnen herbeizuschaffen, brach eine Lanze für den Begriff „demokratischer Sozialismus“, eine Tradition, die man sich von niemandem nehmen lasse, und forderte die eingefleischten SED-Gegner zugleich zur kritischen Distanz auf: „Sorgt dafür, daß ihr nicht dazu beitragt, daß Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden“, mahnte er in deutlicher Anspielung auf Honecker und sonstige arbeitslose SEDler.

Daß nur Walter Momper und ein Mitglied des Neuen Forums engagiert für ein Wahlbündnis der Opposition plädierten, gehörte wie der später gefaßte Beschluß zu den fraglichen Ereignissen des Wochenendes. Für die SPD „kommen gemeinsame Wahllisten“ - so die Entscheidung der Delegiertenkonferenz „nicht in Frage“. Es solle weiter „enger Kontakt“ mit den anderen Gruppen gehalten werden. Doch die einzige feststehende „Koalitionsaussage“ heißt: „ohne die SED“. Die Wortbeiträge, mit denen dieser Beschluß herbeigeführt wurde, strotzten vor neugewonnenem Selbstbewußtsein, auch Selbstgerechtigkeit: Nur in einen Zug „mit Lokführer und aufgeräumten Wagen“ wolle man steigen; nur ein „sozialdemokratisches Wahlbündnis“ erschien Steffen Reiche opportun; die Basis versteckte ihre inhaltliche Ablehnung hinter dem formalen Procedere der ursprünglichen Bündnisaussage: Erst aus dem Radio habe man davon erfahren. Der Sprecher des Neuen Forums beschwor vergeblich den Substanzverlust der Bewegung herauf und die Gefahr, mit der drohenden Zersplitterung „die Revolution nicht zu Ende zu bringen“. Doch die Versammlung, die zufriedenen wirkte, war dem Plädoyer, das sich auf die jüngste Aufbruchstradition bezog, nicht zugänglich. „Der Rausch ist vorbei, jetzt beginnt die Arbeit“, deutete ein Delegierter am Rande die gewandelte Stimmungslage der Versammlung.

Begeisterung und Engagement fanden nicht die Gemeinsamkeit der Oppositionsbewegung, sondern die symbolischen Fragen der Neu-Etablierten. Von der SED fordere man das Parteivermögen und eine der beiden zwangsvereinigten Hände aus ihrem Parteiemblem. Der Beschluß, daß die parteiübliche Anrede „Genosse“ und der Begriff „demokratischer Sozialismus“ gestrichen würden, konnte nur durch die gewiefte Antragskommission verhindert werden.