PRIVATSACHEN

■ Die Schlager des Wochenendes: Helge Schneider im Alhambra und Nachkriegsmusik im Hamburger Bahnhof

Die größte lebende Klatschbase, der französische Schriftsteller Roger Peyrefitte, beherzigte einen Grundsatz bei seinem Lieblingsthema: Ein Prominenter wird von ihm erst dann öffentlich als „Homosexueller“ proklamiert, wenn er mindestens drei Liebhaber des Enttarnten nachweisen kann. Einer ähnlichen Zahlenmagie folgend verkündete letzte Woche das Stadt-Blatt 'Zitty‘ den neuesten Trend im Musikgeschäft: den „neuen deutschen Schlager“. Auch hier wurden drei Herren zur statistischen Unterfütterung des angeblich topmodischen Genres aufgefahren: Ulrich Tukur, Heiner Pudelko und Helge Schneider.

Doch ehe die Genannten zur „neuen“ Ehre kommen können, wird in der 'Zitty'-Titelgeschichte mit dem Alten abgerechnet, ganz auf die abgefeimte Tour, so wie das deutsche Feuilleton schon immer sich mühte, mit dem ungeliebten Genre Schlager fertigzuwerden. „Unverändert uninspiriert“ soll der traditionelle Schlager sein, ein „Betäubungsmittel“, „kläglich“, „schlecht“. Und die Repräsentanten von so viel „minderer Qualität“ können nur „Karikaturen ihrer selbst“ sein, „debil“, „Leichen“.

Damit so viel Polemik nicht unhistorisch bleibt, wird auch noch kurz durch die Schlager-Geschichte schwadroniert. „Glaubwürdig“ sei er noch gewesen vor dem Krieg, erst die Nazis hätten die Tradition zerstört. Da nickt der Common -sense, das kann man immer und zu allem schreiben, falsch ist sowas nie. Aber ausgerechnet Zarah Leander, die schließlich zu den populärsten Schlagersängerinnen des Dritten Reichs gehörte, wird gelobt als eine, die die „Dinge durchaus beim Namen nannte“. In der Tat: Kurz vor dem Untergang flankierte der Leander-Hit „Ich weiß es wird einmal ein Wunder geschehen“ die Propagandareden von der „Wunderwaffe“ , mit denen zum letzten Gefecht geblassen wurde.

Dennoch: Das ganze ansonsten gescholtene Gewerbe „will ums Verrecken nicht anfangen zu stinken“ - in einer selten martialischen Weise schreibt da die 'Zitty'-Autorin, die nichts kennt außer ihre szenekompatiblen Vorurteile, den neuen Trend herbei, damit dieser um so heller erstrahle. Dabei hat die frischdeklarierte Kategorie im Musik-Busineß bisher überhaupt nichts zu bestellen, schon gar nicht unter dem geklauten Etikett „Schlager“.

Ein „Schlager“ ist deutsch, so wie ein „Chanson“ französisch ist und ein „Popsong“ englisch. Und alles meint nicht mehr, als daß es sich dabei um ein populäres Lied handelt, um eines, das ins Ohr geht und gepfiffen wird auf der Straße, wie weiland der sprachliche Schlager-Vorläufer, der „Gassenhauer“. Ein solcher „Hit“ muß textlich und musikalisch streng in seiner Zeit bleiben und dabei an Gefühlen rühren von zeitloser Gültigkeit. Ein guter Schlager schließlich wird zur ganz privaten Angelegenheit. Bei seinem Erscheinen muß man ihn immer wieder hören, bis er nichts mehr zu sagen hat. Doch zehn Jahre später legt man ihn wieder auf und man erinnert sich genau an jene Gefühle, die man fühlte beim ersten Zuhören.

Helge Schneider im Alhambra

Natürlich pfeift keiner ein Lied von Ulrich Tukur, dem Albers-Imitat aus den Hamburger Feuilleton-Etagen, auf der Straße. Und Heiner Pudelko setzt auf Witz, das hebt zwar seine Musik, macht aber beileibe keinen Schlager, auch keinen „wilden“. Der dritte im Bunde des Etikettenschwindels „neuer deutscher Schlager“ schließlich, Helge Schneider, trat letzten Freitag abend auf der Bühne des Weddinger „Alhambra„-Kinos den Gegenbeweis zur journalistischen Einordnung in die Schlagerparade an. Nichts weiter will er sein, als eine „singende Herrentorte aus dem Ruhrgebiet“, und damit hat er recht. Wild zitiert er drauflos, in Plateau -Schuhen wie Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich, mit einem Pilzkopf wie Casey Jones und einem Rüschenhemd a la David Garrick, in Anlehnung also an das ganze Pop-Mittelmaß der Sechziger. Damit legt er los - begleitet von seiner „Hardcore„-Band: eine „angemalte Tucke aus Ibiza“ am Schlagzeug, Buddy Casino aus Las Vegas an der Orgel und Klaus vom Arbeitsamt am Saxophon - und röhrt und zwitschert und kalauert alles runter, was man schon immer mal gehört hat, irgendwie, als Schlager oder als Chanson oder als Shantie oder als Rocksong.

Dazwischen plaudert er von Pickel und Pubertät, von seiner Reise nach Paris - „vom Trumpfbogen runter bis zum Empire -State-Building“ -, vom tätowierten Adventskalender auf seiner Brust - „mit Türchen zum Aufmachen und Schokolade drin“ - und von seinem Sack, auf den „die Mädels“ ihn treten, wenn er mal in die Disko geht. Und damit niemand aus dem krachenden Schenkelklopfen rauskommt, läßt er auch die „Clownerien“ - fünf Masken in drei Sekunden - nicht aus, nicht die Pantomime - „Das ist jetzt eine Leiter“ - und nicht die literarische Lesung: Heinrich Heines gesammelte Werke, Seite 14 oder 267 oder 453.

Das ist Ruhrpott-Entertainment, Kaffee-Fahrt mit Rheumadecken-Verkauf, bunter Abend im Taubenzuchtverein, Las -Vegas-Show im Mallorca-Hotel und Open-Air-Conference vor der Kirmes-Losbude. Damit auch wirklich jeder lacht, bleibt alles so schlecht wie einst bei Onkel Hubert, der bei Familienfeiern immer dann, wenn er vollends blau war, auf die Tische stieg und meinte, jetzt sei er Tom Jones. Das kam gut an im rappelvollen „Alhambra“, knapp zwei Stunden ließ es sich wiehern ohne Reue. Und zum Schluß vereinte der Kumpel-Komiker alle zu einem Herzen und einer Seele: „Ich bin Kacke, das ist aber nicht so schlimm: Wir sind alle Kacke.“

„Musikalische Neuanfänge“

im Hamburger Bahnhof

Doch mit Schlager hat Helge Schneider beileibe nichts zu tun. Um den ging es da schon eher Samstag abend im Hamburger Bahnhof. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Schauplatz Museum“ des Museumspädagogischen Dienstes hatte Rias 1 in die Invalidenstraße geladen, um dreieinhalb Stunden lang live für den Äther an die „musikalischen Neuanfänge im Nachkriegsberlin“ zu erinnern. Hanns Verres, legendärer Moderator der „Frankfurter Schlagerbörse“ in den sechziger Jahren beim Hessischen Rundfunk, heute Unterhaltungschef daselbst und immer noch kompetenter Jazz- und Swing-Experte, führte souverän durch die Talk-Runden und Musikeinlagen mit ungezählten Gästen.

Mit einem veritablen Tanzorchester, dem vom Rias - zunächst unter Leitung seines Begründers Werner Müller, der im Laufe des Abends den Taktstock weitergab an den amtierenden Leader Horst Jankowski - glennmillerte es ordentlich los. So wie einst in den ersten Wochen und Monaten nach dem Krieg, als es, nach einem Jahrzehnt der durch die Reichskulturkammer verordneten Abstinenz, gewaltig amerikanisierte, im Alltag mit Kaugummi und Chesterfield und musikalisch mit Glenn Miller, Tommy Dorsey oder Benny Goodman. Die „Tin Pan Alley“, Sitz der amerikanischen Musikverlage in der 28. Straße in Manhattan und Spitzname für die US -Schlagerindustrie, war, so Hanns Verres, einer der eigentlichen Sieger des Krieges. Der Journalist Lutz Adam erinnert daran, daß Michael Jary schon am 27. Mai 1945 im Haus des Rundfunks in der Masurenallee seinen ersten Auftritt mit dem in aller Eile zusammengestellten „Radio Berlin Tanzorchester“ (RBT) absolvierte. Dazu aufgefordert hatten ihn die neuen Chefs in der Masurenallee, sowjetische Kulturoffiziere, unter ihnen der spätere DDR-Stasi-Chef Markus Wolf, die darauf bestanden, daß Kultur notwendig sei. Auch wenn das erste Programm vorwiegend aus amerikanischen Hits und Evergreens bestand. Weit mehr ideologische Schwierigkeiten mit dem RBT hatte der US-Sender in der Stadt, AFN, der immer wieder drei Solisten des RBT zu Gastspielen im eigenen Programm einlud. Und um sie nicht als Vertreter des „Sowjet-Orchesters“ ankündigen zu müssen, durften die drei nur unter dem Namen „Travellers“ auftreten. Diese landeten 1948 ihren ersten Erfolg mit zeitgemäßer Lebenshilfe, mit dem 'Aufbaufoxtrott‘ „Der Zementmixer“: „Leute seid schlau/ lernt auf'm Bau/ Man kann Steine und Mörtel klauen/ Und umsonst sein Häuschen bauen.“

Mit Musikern, die sich in Ami-Klubs ihren Lebensunterhalt erspielten, trat Werner Müller dann erstmals am 8. November 1948 mit dem Rias-Tanzorchester im Nollendorfplatz-Theater auf. Zum Repertoire gehörte natürlich ein Evergreen, der mit den Zeiten immer wieder seinen Text änderte: In Ami-Land hieß er damals „Chattanooga Choo Choo“, 1948 wurde daraus der „Zug von Großberlin nach Grätschenbroda“, und Lindenberg nölt heute dazu seinen „Sonderzug nach Pankow“. Von ganz anderen Gelüsten erzählte ein anderer Hit von damals: „Mich reizt die Zigarette nicht/ Und auch nicht Alkolat/ Ich hab‘ so Appetit/ Auf Würstchen mit Salat.“ Das Lied stimmte selbst die alliierten Franzosen um, als sie 1948 im Kontrollrat zunächst - trotz der Zustimmung der Sowjets, Engländer und Amis - gegen den Antrag stimmten, Würstchenbuden in Berlin wieder zuzulassen. Erst nachdem der Bully-Buhlan-Erfolg am Verhandlungstisch vorgespielt wurde, waren auch sie einverstanden.

Ganz wie bei einer Radio-Show vergangener Tage konnte man sich Samstag abend im Hamburger Bahnhof fühlen, wenn der schwedische Schlagerexport der frühen Fünfziger, Bibi Johns, zusammen mit Knautschgesicht Paulchen Kuhn an den Notenständer trat und mit Blick auf Noten- und Textblatt den Sommerhit von 1945 intonierte: „Das gibt es nur in Texas“. Und wieder erzählt auch hier ein schlichter Schlagertext ein Stück Sozialgeschichte: Das Glück mit Sonnen- und Trauschein, mit Haus, Urlaub und Feierabendspaß gibt es auch wenn es derzeit noch schwer vorstellbar ist und weit entfernt, eben „nur in Texas“.

An eine andere Musiksparte im Nachkriegsberlin, den Dixieland, erinnerten die „Kreuzberg Stompers“, das „Trio Sorrento“ machte auf „Berliner Gemütlichkeit“ mit einem Medley aus der Schlagerwelt der Fünfziger, und über das Ende der amerikanischen Kompositionen beim RBT informierte Lutz Adam: Bei Gründung der DDR 1949 war die „Musik des Klassenfeindes“ für die Kapellen des Ostens nicht mehr erlaubt. Rudolf Schröder vom Musikverlag Meisel erzählte von der „Kapellenpropaganda“: Nachdem 1948 die Lizenz für den Notendruck wieder erteilt worden war, fuhr man jeden abend los in eines der damals 480 „musikmachenden“ Lokale der Stadt, um die Notenblätter zu den Musikanten zu bringen.

Ein Histörchen reihte sich im Hamburger Bahnhof an das andere, doch war es mehr als nur eine nostalgische Rückschau der tonangebenden Herren von damals. Die Plaudereien über den swingenden und schlagernden Neubeginn sind mitnichten zu vernachlässigende Musikgeschichten, sondern erinnern nachdrücklich an die politische und soziale Situation im Nachkriegsberlin. Und die „dummen und debilen“ Schlagertexte, über die sich so leicht hinweggehen läßt, wenn ohne Nachdenken ein wortgewaltiger Schnellschuß gelandet werden soll - wie heuer im 'Zitty‘ -, lassen einiges erfahren, wenn man bereit ist hinzuhören. Die Atmosphäre einer Zeit ist wieder da, und die Wünsche und Sehnsüchte der Generation von damals treten hervor, und zwar ohne historisierenden Aplomb, sondern mit spielerischer Leichtigkeit. Das gilt für jene damals im alten und neuen Berlin, das gilt für jede andere Zeit und für jeden anderen Ort. Und das läßt sich nicht wegschreiben für leicht verdauliche und schnell bewegliche Trends. Und läßt sich nicht weglachen in oberflächlicher Ignoranz, auch wenn Schlager oft zum lachen sind, schreiend komisch und dumm.

Elmar Kraushaar