Als drei Wale die Welt(medien) bewegten

■ Wie der Welt größtes Nicht-Ereignis zu einem internationalen Medienspektakel wurde

Im Oktober 1988 wurden drei Grauwale im Eis vor der Küste Alaskas eingesperrt. Sie fanden zu spät den Weg zurück ins offene Wasser und drohten zu sterben. Etwas, was in der Arktis jedes Jahr an unterschiedlichen Stellen passiert, ohne daß die Medien dies in irgendeiner Weise zur Kenntnis nehmen.

Auch von den drei Walen im Oktober 1988 hätten normalerweise allenfalls einige Einheimischen Kenntnis genommen, hätte sich dieses „Alltagsdrama“ nicht in der Nähe von Barrow abgespielt, einem kleinen Ort, in dem sich aber die Ölgelder flossen - ein hypermodernes Fernsehstudio mit Satellitenempfangsstation befindet. In einem Dornröschenschlaf befand sich das Studio, bevor es im Oktober 1988 zu einem Medienmittelpunkt wurde; in tiefen Schlaf versank es danach wieder.

Wie es aus diesem Dornröschenschlaf erwachte, schildert der US-Journalist Tom Rose in seinem Buch Freeing the Whales How the Media Created The World's Greatest Non-Event. Eine Serie von Zufällen: Ein paar Eskimos, die just auf Walfang waren, entdeckten die drei eingesperrten Tiere. Sie erzählten die Geschichte einigen Zoologen, die gerade in Barrow arbeiteten, diese informierten den Betreiber des Fernsehstudios, der machte einen Videofilm, wurde diesen an den Lokalsender in Anchorage los, die ihn wiederum an eine Lokalstation in Seattle verkaufte.

Das landesweite NBC-Netz war zuerst an der Geschichte, die eine wahre Völkerwanderung von Presse- und FernsehjournalistInnen, Kameraleuten und TechnikerInnen Barrow zu den drei Walen in Bewegung setzte. Der Wahlkampf zwischen Bush und Dukakis verlor die Schlagzeilen an den Wal -Kampf von Barrow haushoch. Nach den US-JournalistInnen setzten sich nicht nur ihre KollegInnen aus anderen westlichen Ländern ans Eismeer in Bewegung, auch in der Sowjetunion schellten die PR-Klingeln. In diesen Glasnost -Zeiten kamen die UdSSR-Eisbrecher praktisch und symbolisch genau richtig. Das, was „normalerweise“ überhaupt keine Nachricht ist, wurde für einige Tage die Nachricht überhaupt. Bis zum guten Schluß die Wale - zumindest zwei von ihnen - das rettende Meer erreicht hatten, waren Millionen von Dollar geflossen, teils für die Berichterstattung, teils in Hilfsaktionen.

Die Botschaft von Tom Rose ist schon dem Titel seines Buches - der Welt größtes Nicht-Ereignis - zu entnehmen. Mit Nicht-Ereignis meint er die Tatsache, daß das alljährliche Einfrieren und Sterben von Walen nichts Ungewöhnliches ist. Entsprechende Meldungen könnten als Dauermeldungen Jahr für Jahr wiederholt werden. Nur die Serie von Zufällen, die dazu führte, daß eine große TV-Gesellschaft von der Geschichte erfuhr, machte hieraus plötzlich ein Ereignis, das klingelnde Klassen versprach. Das paßte dann gut zusammen mit den Interessen des US-Seefahrtsdirektorats, das gute Chancen sah, endlich zusätzliche Etatmittel für neue Eisbrecher zu erhalten, mit den Interessen des US-Militärs, das immer guter Public Relations bedarf. Auch Moskau wußte, warum es sich lohnte mitzumischen. Das PR-Genie Ronald Reagan war sofort ebenso hellwach wie verschiedene Umweltorganisationen. Die Nicht-Begebenheit war zur Nachricht geworden.

Für Tom Rose - im Auftrag einer japanischen TV-Gesellschaft selbst an Ort und Stelle - kristallisiert sich an der Wal -Geschichte von Barrow die Neubewertung von Nachrichten besonders deutlich heraus. Priorität genießt trotz aller gegenteiliger Beteuerungen nicht die suchende und untersuchende Journalistik, die den Redaktionen viel zu teuer und aufwendig ist. Quasi-Nachrichten werden zu Top -Neuigkeiten aufgeblasen, nicht nur in der Boulevardpresse, sondern immer mehr auch in den „seriösen“ Medien. Nicht unbedingt eine aufregend neue Erkenntnis, die sich aber in der Vermarktung von drei Walen - unter vielleicht 300, die jahrein, jahraus ein ähnliches Schicksal haben - besonders anschaulich vorführen läßt.

Reinhard Wolff