Visuelle Kolonisation

■ Eine Ausstellung zur ethnographischen Fotografie in München

Huberta von La Chevallerie

Ein grelles Licht auf das Bild der Fremde im europäischen Blick wirft die Ausstellung „Der geraubte Schatten Fotografie als ethnographisches Dokument“ im Münchner Stadtmuseum. Am Leitfaden der sich entwickelnden Kameratechnik folgt die Ausstellung der fotografischen Dokumentation fremder Völker in Wissenschaft, Amateurfotografie und Bildjournalismus bis zum Zweiten Weltkrieg. Aus den ersten Aufnahmen der Anthropologen starren uns verschreckte „Wilde“ entgegen: in Frontal- oder Profilansicht, nackt und in strammer Haltung, Verbrechern vor der Hinrichtung nicht unähnlich. Mit preußischer Korrektheit und riesigen Schiebekastenkameras machten sich die Rassenkundler damals an die exakte Vermessung des menschlichen Körpers in aller Welt.

Zwar gab die beschreibende Völkerkunde, die Ethnographie, in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts dieses Vermessungsideal auf, nicht aber den kühl-distanzierten Zugriff auf den fremden Menschen. Und wenn bekleidete Eingeborene sich jetzt schon mal setzen dürfen - es bleibt „jene fatale Armesündermiene“, es bleibt der so wenig dekorative Angstschweiß der Abgelichteten. Und tatsächlich findet sich kein Lächeln, kein entspannter Gesichtsausdruck

-und das nicht nur wegen der langen Belichtungszeiten. Die Objekte wissenschaftlicher Forscherlust fürchteten oft die magische Macht des Bildes. Das gierige Kameraauge - häufig mit dem bösen Blick verglichen - schien ihnen den Schatten zu rauben, den Atem und die Seele abzusaugen. Selbst hierzulande kennt man ja noch das „Recht am eigenen Bild“ und weiß sehr wohl um die Aggressivität der Fototechnik, wenn man vom Schnappschuß spricht.

Aber die Ausstellungsmacher drohen nicht mit dem moralischen Zeigefinger. Sie belassen den Aufnahmen ihren historischen Eigenwert, ohne mit ihnen eine vorgefaßte Interpretation zu illustrieren. Doch zeigt sich freilich, daß die Bilder weit mehr erzählen, als der Fotograf ehedem beabsichtigte. Und so zeugen die Fotografien nicht nur von oft längst untergegangenen Kulturen, sondern auch vom Europäer in der Fremde.

Und diesem Europäer, der die abgelegensten Winkel der Erde bereiste, ging es oft mehr um die eigenen Vorstellungen und Wünsche als um die Erfahrung des Unbekannten. Ganz nach den Bedürfnissen der eigenen Kultur entwarf man das Bild des „edlen“ oder auch „primitiven“ Wilden, und das Fotodokument bestätigte das Klischee. Die weiten Mägen der heimischen Museen verleibten sich nicht nur die fotografisch „geraubten Schatten“, sondern auch materielle Objekte der Begierde ein. „... da diese Documente vor unseren Augen zu Grunde gehen, da sie vom Strome zerstörerischer Zeit erfaßt, rapide dahingeschwemmt werden, so gibt es oft ein Aufraffen nur, ein Einheimsen so rasch und so gut es gerade geht...“ (soweit Adolf Bastian, der Gründer des Museums für Völkerkunde, Berlin, im Jahre 1885).

Unter dem Schutz und im Dienst der Kolonialherren - das Deutsche Reich expandiert seit der Reichsgründung 1870 entfaltet sich eine wahre Sammlerwut, die das, was sie vor Ort zerstört, als Foto-Konserve ins Archiv schickt. Der politischen Besitzergreifung korrespondiert die visuelle Kolonialisierung, ja das Foto kann geradezu als Symbol des Kolonialismus gelten. Und unversehens verwandelt sich das ethnographische Dokument in eine Jagdtrophäe - etwa, wenn der europäische Heros im Tropenanzug sich als Busengrabscher zwischen halbnackten Afrikanerinnen gefällt ... ein Souvenir für zu Hause, Macht- und Potenzbeweis in einem.

Seit der Jahrhundertwende füllen die Beutestücke der Schaulust nicht nur die völkerkundlichen Archive, sondern auch das Familienalbum. Die Kamera hat sich vom Riesenmöbel zum handlichen Massenartikel entwickelt, und der gebildete Mitteleuropäer begibt sich auf Weltreise, um die gewohnten Motive selbst zu knipsen - oder gleich in kommerziellen Fotostudios vor Ort zu erwerben. Das Resultat bleibt dasselbe. Die Daheimgebliebenen stürmen die „Völkerschauen“ in Zoo und Zirkus, wo Kannibalen und wildgewordene Amazonen ein wohliges Gruseln hervorlocken.

Der touristische Foto-Blick wiederholt in pittoresker Übermalung die Stereotype der wissenschaftlichen Ethnographie, nur ohne deren Anspruch. Die Ausstellung ihrerseits versucht diesen Blick als Erfahrungsraum zu inszenieren. So wie das Schiff auch ein Symbol für das komfortable Sich-Transportierenlassen durch fremde Welten ist, präsentieren die Reiseutensilien das Ambiente des Reisens: Mit den Gegenständen schleppt man die eigenen Werte in fremde Häfen. Freilich setzt die räumliche Beschränktheit des Stadtmuseums den Präsentationsmöglichkeiten Grenzen. Angesichts der überquellenden Materialfülle greift man gerne zum Katalog - dessen Lektüre sich auch unabhängig von der Ausstellung lohnt -, um durch das Labyrinth der Bilder und Bezüge hindurchzufinden.

Die Begleiterscheinungen des Massentourismus, der die koloniale „Besitzergreifung auf Distanz“ mit anderen Mitteln fortsetzt, werden in den 20er und 30er Jahren bereits vom Bildjournalismus attackiert. Professionelle Fotografen halten die Veränderungen und Zerstörungen traditioneller Kulturen fest. Die Geburt des sozialkritischen Bildjournalismus findet freilich in Indien statt. Schon früh hatten die Inder die westliche Fototechnik von den Briten übernommen. Als erste richteten sie die Kamera auf das soziale Elend in den Straßen und dokumentierten den Verarmungsprozeß, den die Kolonialisierung eingeleitet hatte. Auch fotografisch entwickelten die indischen Profifotografen bald eine eigene Sichtweise: Auflösung der Zentralperspektive und Dezentralisierung des Bildmotivs -, was die indische Wirklichkeit sehr viel besser einfing als die Mittelpunktkonzentration westlicher Beobachter. Von diesen Ansätzen aus - die die Ausstellung natürlich nicht weiter aufführen kann - führt eine heiße Spur zum aktuellen Thema der Selbstdarstellung außereuropäischer Völker in Fotografie und Film.

Und dann beschleicht einen der leise Verdacht, daß der fotografische Blick sich umwenden und auf uns zurückfallen könnte, daß auch ein Europäer sichtbar ist für andere. Ein solches Bild muß nicht immer schmeichelhaft sein, wie die afrikanischen Plastiken am Eingang der Ausstellung zeigen: die britische Gouvernante im knöchellangen Schnürkleid, der uniformierte Beamte, der Richter mit dem riesigen Kopf und den verkümmerten Beinen...

Die Ausstellung ist noch bis 11.Februar im Münchner Stadtmuseum zu sehen und wird dann von 9. März bis 6. Mai im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt. Der Katalog kostet 58 DM.