„Die Akkumulationsrate war zu gering“

Jürgen Schröder ist Abteilungsleiter für ausländische Arbeitskräfte im Ostberliner Ministerium für Arbeit und Löhne  ■ I N T E R VI E W

taz: Nach Ihren eigenen Worten handelt es sich bei den bisher geschlossenen Regierungsabkommen über ausländische Arbeitskräfte nicht um „Ansiedlungsgprogramme“. Müssen Sie nicht akzeptieren, wenn Sie weiter Arbeitnehmer aus dem Ausland in die DDR holen wollen, daß diese Leute hier einwandern?

Schröder: Ich glaube nicht, daß die DDR auf Dauer ihre Arbeitskräfteproblematik durch ausländische Arbeitskräfte regulieren kann. Das ist ein ganz anderes Problem. Ich denke, daß in den nächsten zwei, drei Jahren, die Arbeitskräftesituation ganz anders aussehen wird. Es wird ausländisches Kapital in unsere Betriebe fließen. Die Frage des zusätzlichen Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften war ja dem Fakt geschuldet, daß die Akkumulationsrate zu gering war. Das heißt, die Betriebe haben zuwenig Kapital, um zu automatisieren. Das wird sich in den nächsten Jahren ändern. Die Zahl der eingesetzten ausländischen Werktätigen wird auf Grundlage unserer zentralen Abkommen nicht steigen

-im Gegenteil. Das Alternativkonzept wird sein: der Einsatz von ausländischen Bürgern auf der Grundlage individueller Interessenübereinstimmung zwischen einem Betrieb und diesem Bürger. Der Betrieb wird anhand seiner finanziellen Möglichkeiten entscheiden müssen, ob er es sich leisten kann, diesen Bürger einzustellen. Ob die DDR ein Einwanderungsland wird, muß die Bevölkerung entscheiden. Da muß man im breiten gesellschaftlichen Dialog darüber befinden, inwieweit die Menschen hier zu akzeptieren bereit sind, daß der Nachbar in Zukunft ein Vietnamese, ein Bundesbürger oder ein Ägypter sein wird. Da gibt es unterschiedliche Meinungen.

Konkret steht die Verlängerung des Abkommens mit Vietnam an. Wird es zu den gleichen Bedingungen verlängert?

Es wird sicherlich Veränderungen geben. Relativ hohe ökonomische Belastungen für unsere Betriebe können so nicht mehr weiter bestehen bleiben (die Betriebe müssen zum Beispiel für die Reisekosten sowie einen Heimaturlaub aufkommen, d. Red.). Ob sich in fünf oder sechs Jahren noch 60.000 vietnamesische Werktätige hier aufhalten, vermag ich nicht zu sagen. Das hängt sicher davon ab, wie sich unsere Volkswirtschaft gestaltet.

Vor einiger Zeit ging die Meldung durch die Presse, 20.000 Italiener hätten sich gemeldet, um in der DDR zu arbeiten. Ist das in den nächsten Jahren vorstellbar?

Ob in solchen Größenordnungen, möchte ich bezweifeln. Aber daß ein italienischer Arbeiter, der für einen DDR-Betrieb interessant ist, hier arbeitet, ist durchaus vorstellbar.

Wie wollen Sie verhindern, daß Ausländer letztlich die schlechter qualifizierten und bezahlten Arbeitsplätze auffüllen - wie das bei den Vietnamesen und Mozambiquanern zum Teil schon der Fall ist?

Das kann man verhindern, wenn wir uns als zuständiges Ministerium für die Menschen auch verantwortlich zeigen, die wir als Arbeitskräfte ins Land holen. Außerdem muß man gewisse regulierende Mechanismen entwickeln. Da ein Betrieb künftig alle Aufwendungen für einen ausländischen Arbeitnehmer selbst tragen muß - auch den Lohntransfer, den er aus einem eigenen Valutahaushalt begleichen muß - wird er sich schon überlegen, ob er zum Beispiel als Küchenhilfe eine Frau aus England einstellen wird.

Das Thema Ausländerfeindlichkeit wird in der DDR endlich auch öffentlich diskutiert. Wo sehen Sie denn die Ursachen?

Das hat viel mit unserer momentanen politischen Situation zu tun. Die, die heute „Ausländer raus“ schreien, schreien auch „Rote an die Wand“ und sind überhaupt gegen Andersdenkende. Begünstigend wirkte sicher auch eine falsche Informationspolitik zum Thema Ausländer. Die muß also schnell revidiert werden.

Sie sehen es also jetzt als Fehler an, die ausländischen Arbeiter nur auf ihre Funktion als Arbeitskraft reduziert zu haben?

Wir haben den sozialen Aspekt sicher nicht ausreichend geregelt - sonst hätten wir heute die Probleme nicht.

Interview: Andrea Böhm