„Wir sind eine Bratwurstgesellschaft“

Der Versuch, in der DDR eine fortschrittliche Ausländerpolitik zu machen / Hearing mit Fachleuten in Ost-Berlin / Neues Ausländergesetz soll erst nach dem 6.Mai ausgearbeitet werden / Ausländische Arbeitskräfte leben unter menschenunwürdigen Bedingungen  ■  Aus Ost-Berlin Andrea Böhm

Nguyen Ba Viet aus Vietnam ist von seiner Botschaft angewiesen, sich politischer Äußerungen zu enthalten und nicht an Versammlungen teilzunehmen. Darüber werde er sich heute hinwegsetzen, erklärte er im überfüllten Saal der Ostberliner Bartholomäus-Gemeinde, und über die Situation seiner Landsleute in der DDR informieren: über die Arbeitsbedingungen in den Betrieben, wo die Vietnamesen meist Schichtarbeit verrichten; über die Richtlinien zur Unterbringung, wonach jeder Vietnamese wenigstens fünf Quadratmeter Platz zur Verfügung haben sollte; und über die nächtlichen Kontrollen in den Wohnheimen.

Manchmal würden den Schlafenden einfach die Decken weggerissen, um zu sehen, ob da nicht zwei im Bett liegen, berichtete Nguyen Ba Viet und wünschte sich, daß seine Landsleute auch nach 22 Uhr noch Besuch empfangen können und daß sie einfach besser behandelt werden. Dann bedankte er sich für den Beifall der Zuhörer: Mitglieder von Parteien, Oppositionsgruppen, Kirchengemeinden und mehrere Ausländergruppen, die sich in den letzten Monaten gegründet haben. Nur die Vertreter des Arbeits-und Innenministeriums klatschten nicht.

Eingeladen hatte das Ökumenisch Missionarische Zentrum (ÖMZ) zu einem Hearing über Ausländerpolitik. Christfried Berger, Leiter des ÖMZ, verteilte eingangs Seitenhiebe an die SED-PDS: „Wir müssen an die Ursachen der Ausländerfeindlichkeit gehen. Demos und Kampfmeetings allein helfen da nicht.“ Was die Aufarbeitung von Rassismus angeht, so steht man nach 40 Jahren „verordnetem Antifaschismus am Anfang“, sagte eine Teilnehmerin.

Auch auf gesetzgebender Ebene betritt man Neuland: Die Kriterien für ein Aufenthaltsrecht von Ausländern waren bisher entweder nicht bekannt oder nicht nachvollziehbar. Eine Ausweisung kann nach (noch) geltendem Gesetz ohne Angabe von Gründen und ohne gerichtliche Überprüfung erfolgen; ein Asylrecht existiert faktisch nicht; die Einwanderung - oder „ständige Wohnsitznahme“, wie es offiziell heißt - wird bislang nur nach der Heirat mit einem DDR-Bürger gestattet. „Wir stehen in dieser neuen Situation auch vor der Frage“, so Berger, „ob wir ein Einwanderungsland werden sollen.“

Eine seltsame Vorstellung angesichts der herrschenden Verhältnisse. Rund 180.000 Ausländer leben in der DDR; das entspricht etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Nur etwa 40.000 haben dort ihren ständigen Wohnsitz, der weitaus größte Teil ist im Rahmen bilateraler Regierungsabkommen für vier oder fünf Jahre zum Arbeitseinsatz gekommen - darunter etwa 60.000 Vietnamesen, 16.000 Mozambiquaner, 9.000 Kubaner und 7.000 Polen.

Seit November tauchen die nordkoreanischen Arbeitskräfte in den Statistiken nicht mehr auf. Sie wurden innerhalb weniger Tage nach der Grenzöffnung nach Hause beordert. Auch den Kubanern steht nach Informationen aus Kirchenkreisen die Heimreise bevor.

Was nach Ansicht des zuständigen Ministeriums für Arbeit und Löhne eine „besondere Form wirtschaftlicher Zusammenarbeit“ ist, kritisieren Ausländergruppen in der DDR als „Menschenhandel“.

„Alkoholismus und

Suizide“

Dennoch sind die Arbeitsplätze begehrt - oft ernährt der Monatslohn in DDR-Mark auch die Familienangehörigen zu Hause. Aber in der DDR ergeben sich schnell massive Probleme. In Wohnheimen isoliert, von der eigenen Botschaft rigide kontrolliert, abgeschnitten von der Familie (Vietnamesen dürfen einmal während des Einsatzes nach Hause), leiden viele unter enormem psychischen Druck. „Alkoholismus und Suizide sind die größten Probleme“, berichtete eine Pastorin.

Den Wortlaut der Regierungsabkommen über die Arbeitseinsätze kennt außer den Mitarbeitern des Ministeriums für Arbeit und Löhne (MAL) bislang keiner, obwohl Juristen und Ausländergruppen seit längerem ihre Veröffentlichung fordern. Man wolle die Abkommen nun dem ÖMZ und auch den Vertretern des runden Tisches zugänglich machen, kündigte MAL-Vertreter Hans-Jürgen Kaminski während des Hearings an.

Mitentscheidend für die Lebensbedingungen der Vietnamesen und Mozambiquaner sind nach Ansicht des Ostberliner Juristen Reinhard Kosewähr jedoch die zahlreichen Nebenabreden. Anfang 1989 wurde zum Beispiel eine gemeinsame Erklärung der DDR-Regierung und der vietnamesischen Botschaft bekannt, wonach vietnamesische Arbeiterinnen im Fall der Schwangerschaft nach Hause zu schicken sind - es sei denn, sie sind bereit, abtreiben zu lassen.

Mozambiquanerinnen droht ähnliches. Das Ministerium schreibt solche Absprachen dem Drängen der ausländischen Regierungen zu. Die mozambiquanische Regierung würde es als „unmoralisch betrachten, wenn die Frauen ihren Arbeitsvertrag nicht erfüllten“, rechtfertigte sich Kaminski. Auf einer Tagung im Mai letzten Jahres war er schon einmal zu diesem Problem gefragt worden. „Die sind zum Arbeiten hier“, hatte er damals lapidar geantwortet.

Einer der politisch Verantwortlichen räumte während des Hearings Fehler ein. „Man hat einfach vergessen, daß das Menschen sind“, sagte Klaus Goder, Mitglied der Ex -Blockpartei CDU. Zumindest rechtlich soll die DDR diesem Umstand nun Rechnung tragen, forderten Kirchen- und Oppositionsvertreter und Juristen. Abkommen, die menschenunwürdige Klauseln enthalten, sollen aufgekündigt, das Aufenthaltsrecht rechtsstaatlichen Kriterien angepaßt werden; die DDR müsse endlich der Genfer Flüchtlingskonvention beitreten sowie ein Asylrecht gesetzlich verankern; die Einwanderungspolitik müsse liberalisiert werden.

Man hat Angst, von der Regierung Modrow vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. An den diskriminierenden Sonderregelungen für Ausländer im gerade verabschiedeten Reisegesetz konnte auch die extra eingerichtete Kommission „Ausländerpolitik“ des runden Tisches nichts ändern. Die Verabschiedung eines Medien- und Vereinigungsgesetzes und des Joint-venture-Gesetzes stehen bevor. Die Gleichstellung der Ausländer will Kosewähr darin explizit festgeschrieben sehen. Ein Ausländergesetz soll nach Angaben des Ministeriums des Innern erst nach den Wahlen am 6. Mai erarbeitet werden; im Arbeitsministerium wird bereits über eine Gesetz zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer „nachgedacht“.

Hans-Jürgen Kaminski beeilte sich, „volle Abstimmung“ mit dem runden Tisch zuzusichern. Die Forderung nach einem liberalisierten Einwanderungsrecht lehnte er allerdings mit spitzfindiger Begründung ab. Dazu fehle der „gesellschaftliche Konsens“, die Ausländerfeindlichkeit sei zu groß, wie zuletzt die öffentliche Empörung über einkaufende Polen gezeigt habe. Polnische Bürger waren an diesem Abend nicht zu sehen, über Polenfeindlichkeit wurde kaum gesprochen.

Das Wort „multikulturell“ nahm man nur sehr selten in den Mund. „Dazu müsen wir überhaupt erst mal die Voraussetzungen schaffen“, meinte Anetta Kahane, Vertreterin des Neuen Forums in der Kommission und Mitbegründerin des Ostberliner Arbeitskreises Ausländerfragen. Selbst wenn die rechtliche Gleichstellung der Ausländer durchgesetzt werden sollte, das zentrale Problem bleibt: Wie soll man einen jahrzehntelangen Zustand der Schizophrenie beheben, in dem der Staat einerseits Völkerverständigung und internationale Solidarität propagierte, andererseits seine ausländischen Bürger in Quarantäne halte? Das Schlimme sei, daß die Ausländer in der DDR ihre eigene Kultur nirgendwo leben dürften - ob nun Vietnamesen oder Mozambiquaner, die nach ein paar Jahren zurückmüssen, oder die Exilanten, die über die Jahre in der DDR gelebt haben: Spanier, Griechen oder Chilenen. Die meisten sind inzwischen wieder nach Hause zurückgekehrt, „aber sie haben keine Spuren hinterlassen“, sagte Anetta Kahane. Kein chilenisches Kulturzentrum, keine griechische Kneipe, kein spanisches Restaurant. „Wir sind eben noch eine Bratwurstgesellschaft.“