Armenier und Aseris vor dem Bürgerkrieg

■ Nach den anti-armenischen Ausschreitungen in Aserbaidschan kann nur die Rote Armee die Lage beruhigen

Die Opfer der Auseinandersetzungen der letzten Tage sind die Armenier, die das Pech haben, in Aserbaidschan zu leben. Der nationalistische Konflikt um die autonome, mehrheitlich von Armeniern bewohnte aserbaidschanische Region Nagorny -Karabach hat wie schon im vorigen Jahr eine brisante politische Situation geschaffen. Die politische Mittel sind erschöpft, denn durch den Haß sind alle Brücken zwischen beiden Völkern buchstäblich abgebrochen.

In der Sowjetrepublik Aserbaidschan hat sich die Lage dramatisch zugespitzt, nachdem die pogromartigen anti -armenischen Ausschreitungen am Wochenende nach der jüngsten offiziellen Bilanz 34 Todesopfer gefordert hatten. Die Behörden begannen am Montag mit der Evakuierung von Armeniern aus Baku. Etwa 660 armenische Frauen und Kinder wurden mit zwei Schiffen über das Kaspische Meer nach Krasnowodsk in Turkmenien gebracht. Dies teilte das sowjetische Innenministerium in einem Kommunique mit, das am Montag vom Fernsehen verbreitet wurde. Von armenischer Seite verlautete, daß die Evakuierung auf dem Seeweg erfolgen mußte, da die Benutzung des Flughafens von Baku für Armenier gefährlich war. Die aserischen Nationalisten mobilisierten ihre Anhänger unterdessen weiter. Auch die Sicherheitskräfte wurden zunehmend Opfer von Übegriffen. Nachschubwege der Sondereinheiten des sowjetischen Innenministeriums in die Kampfgebiete im Norden der Enklave Nagorny-Karabach wurden von aserischen Nationalisten blockiert.

„Wenn die Machtorgane der Sowjetunion nicht die erforderlichen Maßnahmen treffen, dann, fürchte ich, werden die Armenier spontane Aktionen zur Verteidigung ihrer Landsleute in Nagorny-Karabach beginnen.“ So erklärte am Montag der Vorsitzende des Obersten Sowjet Armeniens, Grant Voskanjan, in Moskau, wo das Präsidium des Obersten Sowjets unter Vorsitz von Gorbatschow die Lage in Nagorny-Karabach diskutiert. Armenische Volkskongreßabgeordnete hatten sich per Telegramm an Gorbatschow gewandt, weil der aserbaidschanische Parteisekretär Vesirvo noch am Abend der antiarmenischen Pogrome im Bakuer Fernsehen zusammen mit Volksfrontvertretern dazu aufgerufen hatte, die Lösung der Nagorny-Karabach-Frage in eigene aserbaidschanische Hände zu nehmen, bevor es das Moskauer ZK tut. Die aserbaidschanische Volksfront mobilisiert seit Tagen Bewaffnete für den Kampf in den Bergen. Es heißt, sie könne über ca. 60.000 Kämpfer verfügen. Im Kaukasus wird der aserbaidschanisch-armenische Bürgerkrieg immer blutiger. Die 15.000 Mann Moskauer Sondertruppen können trotz eingeflogener Verstärkung die Lage nicht mehr kontrollieren.

Die Situation in Baku soll dagegen nach den Pogromen und der Flucht Tausender von Armeniern relativ ruhig sein. In der armenischen Vertretung in Moskau sammeln sich verzweifelte Flüchtlinge. Drei- bis viertausend oder noch mehr, die nach den ersten antiarmenischen Pogromen noch in Baku ausgehalten hatten, sollen in Moskau eingetroffen sein. Es heißt, in Baku seien am Wochenende etwa hundert Armenier zum Teil auf bestialische Weise umbebracht worden. Zwei der Toten wurden auf dem Bahnhof von Baku erschlagen, als sie versuchten, aus der Stadt zu flüchten. Der Reporter des staatlichen Fernsehens war fast unfähig zu berichten: „Mein Herz schmerzt, meine Kehle ist wie zugeschnürt, aber zu berichten ist meine Pflicht.“

Alle Vermittlungsversuche Gorbatschows im Kaukasus sind gescheitert. Seine Dekrete, sowohl Beschlüsse des aserbaidschanischen wie des armenischen Sowjets über Nagorny -Karabach zu annullieren und für verfassungswidrig zu erklären, lassen die aserbaidschanisch-islamische Nationalistenbewegung ungerührt. Gruppierungen wie die Jugendorganisation „Errettung“, die Nagorny-Karabach mit der Waffe in der Hand von Armeniern befreien will, fühlen sich getragen vom Aufwind der jüngsten Erfolge und begünstigt von der Schwäche des Moskauer Zentrums. Die aserbaidschanischen Bezirksstädte Dschalilabad und Lenkoran scheinen am Montag immer noch fest in der Hand der Volksfront zu sein.

Rund um den armenischen Bezirk Schaumjan in der Nähe Nagorny- Karabachs sollen schon mehrere tausend Bewaffnete Aserbaidschaner konzentriert sein. Das Schicksal der entführten Partei- und Sowjetführung ist immer noch ungewiß. Schießereien um Nagorny-Karabach haben mindestens 34 Todesopfer und 14 Verletzte gefordert. Ein armenisches Dorf soll gar von Hubschraubern aus angegriffen worden sein. Die Angreifer hätten uniformähnliche Montur und schußsichere Westen getragen, berichtet die Nachrichtenagentur 'tass‘. Die Moskauer Sondertruppen hatten Mühe, den Angriff abzuwehren. Einige Soldaten sollen in den letzten Tagen gefallen sein.

Die zur Verstärkung für die Sondereinheiten ankommenden Truppenteile, die seit Wochen im Hexenkessel des aufflammenden Massenaufruhrs stecken, wurden im aserbaidschanischen Kirovabad blockiert. Aserbaidschanische Demonstranten versperrten ihnen mit Sand und Stein beladenen LKW den Weg. Die Einheiten wurden schließlich per Luftbrücke nach Nagorny Karabach gebracht. Die Situation in den Erdbebengebieten wird noch durch den Mangel an Brennstoffen und Nahrungsmitteln im eiskalten Kaukasuswinter verschärft Folgen der monatelangen Blockade durch die aserbaidschanischen Nationalisten.

Während von aserbaidschanischer Seite offenbar versucht wird, die armenische Bevölkerung zu vertreiben, sind Anstrengungen der armenischen Volksfront darauf gerichtet, einen Korridor nach Stepanakert zu schaffen. Die im ehemaligen roten Kurdistan liegenden aserbaidschanischen Dörfer waren Ziel der Angriffe. Der Appell des sowjetischen Staats- und Parteichefs Gorbatschows im litauischen Wilna, nur der Bürgerfriede, nur die Abstimmung der wechselseitigen Interessen könnten das Land aus der gegenwärtigen schweren Krise herausführen, blieben ungehört. Der Bürgerkrieg im Kaukasus ist die bislang härteste Probe für die Perestroika. Der islamisch-nationalistische Aufschwung im Süden der Sowjetunion provoziert noch viel mehr als die recht moderat -demokratischen Balten eine Politik der harten Hand aus Moskau. Womit auch sonst könnten neue Massaker verhindert werden? Der Rat zur nationalen Rettung, der nach den Pogromen in Eriwan gebildet wurde, ruft laut um Hilfe.

Gisbert Mrozek, Moskau