Theoretisch für die DDR

■ An der Humboldt-Universität arbeitet das Projekt Sozialismustheorie an einer DDR-Verfassung / Ein Entwurf soll bis zur Wahl am 6.Mai fertiggestellt sein

„Die Verfassung entscheidet über die weitere Existenz der DDR“ - mit dieser zunächst nicht sehr ungewöhnlich klingenden These wollen WissenschaftlerInnen der Ostberliner Humboldt-Universität (HUB) aktiv in den politischen Willensbildungsprozeß eingreifen. In einer Pressekonferenz stellten sie gestern ihre Vorstellungen auch interessierten West-Journalisten vor. Während die Rektoren der HUB derzeit kollektiv über einer neuen Universitätsverfassung brüten, arbeitet eine Forschergruppe interdisziplinär an einer neuen Verfassung für die DDR. Im Umkreis um das Forschungsprojekt „Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus“, kurz Sozialismustheorie genannt, wird fieberhaft darüber nachgedacht, welche Grundentscheidungen für eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung getroffen werden müssen, ehe eine neue Verfassung erarbeitet wird. Das Forschungsprojekt arbeitet seit 1988, ursprünglich mit der Absicht, für den neuen Fünfjahresplan, der auch für den Wissenschaftsbereich verbindlich war, ein großes sozialismustheoretisches Projekt vorzubereiten. Der neue Fünfjahresplan wäre eigentlich 1990 in Kraft getreten, die Ratlosigkeit an der HUB ist dementsprechend groß. „Wie lange es uns geben wird, wissen wir nicht“, sagte der Wissenschaftler Rainer Land zur Begrüßung.

Beteiligt sind mittlerweile die Sektionen für Rechtswissenschaften, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Als eines der zentralen Probleme des gegenwärtigen Prozesses in der DDR konstatieren die Wissenschaftler eine fehlende Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Land. Daraus entstünden Verunsicherung und Perspektivlosigkeit, so Rainer Land. Der Grund: „Der Diskurs der Experten und der auf der Straße finden in verschiedenen Welten statt.“ Nach Ansicht der Wissenschaftler wird an allen Ecken und Enden versucht, Teilprobleme zu lösen, ohne die entscheidende Grundsatzfrage zu lösen: Sie bestehe darin, ob sich eine Mehrheit der DDR-Bevölkerung für einen eigenständigen Staat - auch einen nichtsozialistischen oder für eine „Integration“ in die BRD entscheide. Ehe eine Wirtschaftsreform in Gang gebracht werden könne, müsse es eine neue DDR-Verfassung geben; und vor dieser müsse ein allgemeiner Willensbildungsprozeß stattfinden. Seit der Wahltermin feststehe, arbeiteten alle nur noch auf einen möglichen Wahlsieg hin, anstatt sich grundsätzlich darüber klarzuwerden, wohin die DDR gehen solle. Das Projekt fordert einen öffentlichen Diskurs, konstatiert aber die Schwierigkeit, daß es derzeit in der DDR keine Persönlichkeiten gebe, die imstande wären, diesen Prozeß in Gang zu setzen. Die WissenschaftlerInnen - in der Mehrzahl immer noch SED-Mitglieder - schlagen deshalb vor, so schnell wie möglich ein Gremium einzusetzen, das öffentlich Reformlinien diskutiert, und dieses gemeinsam mit dem runden Tisch zum Instrument einer allgemeinen Konsenssuche zu machen. Da es diesen Vorschlag selbst schon für kaum realisierbar hält, arbeitet das Projekt derzeit einen Entwurf für eine auf rechtsstaatlichen Grundsätzen fußende Verfassung aus, der in großen Teilen bis zum 6. Mai fertiggestellt sein soll. Nach den Vorstellungen der Wissenschaftler wird die neu gewählte Volkskammer zur verfassunggebenden Versammlung, die zwischen mehreren Varianten wählen könnte. Über die Annahme der Verfassung sollte dann ein Volksentscheid beschließen.

kd