Mainz bleibt Mainz

■ Eine deutsche Erstaufführung im Staatstheater

Nun gibt es viele Menschen, die suchen sich ihren Wohnort nicht aus. Manche hat es nach Mainz verschlagen, oder sie sind da geboren und wollen da bleiben. Sie haben Mainz samt Umgehungsstraße, Altstadt und Einkaufszone, und sie haben auch ein Theater. Das Theater ist häßlich, das Theater ist groß. Das Haus ist selbst bei einer Premiere doppelt so groß wie erforderlich, und seit Samstag abend weiß ich, warum: Dieses Theater ist auch den Mainzern nicht zumutbar.

„Mit seiner ersten Premiere am 13.Januar“, verkündet munter die Hauszeitung, „wagt sich das frischgebackene Staatstheater Mainz an ein schwieriges Thema: Es geht um die verheerenden Folgen von Faschismus und Gewalt in der Geschichte bis in unsere heutige Zeit. In deutscher Erstaufführung: 'Kreuzzüge‘ von Michel Azama.“

Von besagtem Michel Azama, französischer Schauspieler und Autor, ist bisher nichts übersetzt. Das ist vielleicht nicht weiter erstaunlich, denn zumindest mit diesem Stück zu diesem Thema hat sich der 42jährige leicht überhoben. Da treten Tote auf und Lebende, erzählen in kurzen Szenen ihre Geschichte und haben nicht viel Zeit, zu Personen zu werden. Da west eine Untote namens „Mutter Glucke“ durch die Szene, seit 800 Jahren unterwegs ins gelobte Land und immer noch nicht angekommen. Sie soll die Handlung zusammenbinden, soll zeigen: Seit mehr als tausend Jahren ist diese Region ein Schlachtfeld der Gläubigen, Gewalt erzeugt Gegengewalt, Fanatismus erzeugt Fanatismus, und Krieg erzeugt Profit.

Der Autor macht einen Kunstgriff ins Jenseits: Inmitten derer, die sterblich sind, gehen die Auferstandenen spazieren, mit leichterem Schritt. Sie brauchen sich nicht mehr umzusehen, sie sind ein letztes Mal von den Kugeln getroffen worden. Sie warten auf die noch Lebenden. Sie empfangen sie freundlich: Bei den Toten sind die Grenzen abgeschafft.

Ein harter Griff ins Diesseits: Die Grenzen gibt es noch, sie durchziehen ein nicht fernes Gebiet wie ein Schnittmuster, neu und alt, kreuz und quer. Die Kinder sterben an Spielzeug, es ist mit Bomben gefüllt. Irgendwer hat es produziert, entworfen, verpackt, am Fließband abgenommen, vom Flugzeug abgeworfen. Ein Land baut die Panzer, ein anderes setzt seine Dynamitvorräte ab, eines die Flugzeugteile, eines die Chemie, eines die Waffen, eines die Munition, eines das Giftgas, eines das know-how. Und andere sterben daran.

Es ist ein großer Text, aber diese Inszenierung hat er nicht verdient. Die geschminkten Toten stehen am Rand, einem Wachsfigurenkabinett entkommen. Die noch Lebenden toben durch die Szene mit der unsinnigen Theatralik eines Schülertheaters und machen, schwer atmend und schwer arbeitend, so nebenbei den letzten Schrecken zunichte. Die Mutter Glucke ruft, auf dem Weg nach Jerusalem zusammenbrechend: „Meine Krampfadern sind aufgebrochen!“, und das klingt in Mainz wie: „Mein Hüfthalter bringt mich um!“ Die endgültige Bagatellisierung des Sterbens leisten die alte Frau und der alte Mann, die den Toten-Abholdienst stellen und mit wackelnden Köpfen und Gliedern eine hundertjährige Eheszene fortsetzen: Was als Zynismus gedacht war, wird zur peinlichen Farce. Wo der Text leise argumentiert, wird er herausgeschrien und -gekeucht, wo er Stille braucht, trampelt die Amokregie gnadenlos über ihn hinweg. Das Ganze in einem Bühnenbild, das aussieht wie das einer Kinderoper. Die gesamte Maschinerie des frischgebackenen Staatstheaters wird sinnlos genutzt: Theaterdonner und Trockeneis, Windmaschine und Geräusch, Vorhang rauf und Vorhang runter, die Rampe auf, die Rampe runter (das können die Jungs vortrefflich!).

Und immer wieder ein Schuß. „Heilandzack!“ sagte der Mann neben mir, der wieder einmal erwachte.

Elke Schmitter

Regie: Olaf Tschierschke, Ausstattung: Jürgen Aue. Die nächsten Aufführungstermine: 17., 21. und 24. Januar.