„Für ein neues ethisches Denken“

Gespräch mit Liv Ullman und Pat Denian über die Situation in den Hongkonger Flüchtlingslagern  ■ I N T E R V I E W

Zwischen dem 6. und 12.Januar hatte eine Delegation der New Yorker Frauengruppe für vietnamesische Flüchtlingsfrauen und -kinder Gelegenheit, einige der Lager in Hongkong zu besichtigen. Die Sprecherinnen der Gruppe waren die Schauspielerin Liv Ullman und Pat Deriand, die in der Charter-Administration für humanitäre Fragen zuständig war.

taz: Frau Derian, Frau Ullman, Sie sind bisher in fünf Lagern für vietnamesische Flüchtlinge in Hongkong gewesen und haben damit vermutlich mehr gesehen als die meisten Journalisten hier. Sie haben die Bedingungen dort als unmenschlich verurteilt. Können Sie sie näher beschreiben?

Liv Ullman: Da ist zunächst der entsetzliche Mangel an medizinischen Einrichtungen. Es gibt keine Mittel, um Epidemien vorzubeugen, Kinder werden nicht geimpft. Ärzte und Krankenpfleger von außerhalb haben keinen Zutritt zu den Lagern. Das ist für mich die entsetzlichste Tatsache, durch die sich die Situation der Flüchtlinge in Hongkong von der der meisten anderen in der Welt unterscheidet. Das Menschenrecht, behandelt zu werden, wenn man krank ist, wird ihnen vorenthalten. Wir haben von einem Fall gehört, bei dem ein Kind nachts krank wurde und kein Aufsichtsbeamter da war, der Mutter und Kind zu einer Krankenstation gebracht hätte. Wir haben sehr bewegende Bilder gesehen, die der Vater des Kindes gemalt hat, das nachts an einem Asthmaanfall gestorben ist.

Pat Derian: Für die Situation wird die örtliche Gesundheitsorganisation verantwortlich gemacht, die offenbar sehr mächtig ist. Aber selbst, wenn es so wäre: Medizinische Versorgung von Flüchtlingen ist ein fundamentales Menschenrecht, und die Verantwortung dafür läßt sich nicht abwälzen. Die Welt ist voller Mediziner, die freiwillig ihren Urlaub opfern würden, um einige Wochen zu helfen. Von Sozialarbeitern und Helfern, die sonst noch nötig wären, ganz zu schweigen.

Wissen Sie, man geht da rein

... Dieser Anblick halogenbeleuchteter Erschöpfung, Spannung und Verzweiflung ist grauenvoll. Die Menschen sind hilflos. Frauen zum Beispiel bekommen für ihre Periode zehn Binden pro Monat. Auch wenn sie nachfragen, sie bekommen nicht mehr. In anderen Lagern mußten Frauen dafür demonstrieren. Dafür gibt es keine vernünftigen oder bürokratischen Gründe. Es ist einfach Erniedrigung und Einschüchterung. Das ist ein Gefängnissystem, in dem die Menschen als Nummern und Kinder wie gefährliche Mörder behandelt werden. Aus Sicherheitsgründen.

Wie sicher sind denn die Lager für ihre Bewohner, insbesondere die Frauen? Es gibt Meldungen über Banden...

Liv Ullman: Es gibt Banden, aber es gibt auch Maßnahmen gegen diese Banden, die nach Aussagen von Frauen so gefährlich für sie sind, wie die Banden selbst. Wir haben Geschichten über sexuelle Bedrohungen und Beleidigungen gehört, und wir haben es selbst gesehen. So ein kleiner Schlag mit dem Gummiknüppel gegen die Hüften...

Obwohl der Gouverneur keine Zeit hatte, Sie zu treffen, hatten Sie Gelegenheit, mit Vertretern der Bevölkerung Hongkongs zu sprechen. Die Forderungen nach Zwangsabschiebung der Vietnamesen sind hier sehr laut geworden. Was ist Ihre Position dazu?

Pat Derian: Man darf das einfach nicht machen. Das riesige Problem: Der große Zustrom von Flüchtlingen, ihre Unterbringung in anderen Ländern, muß politisch gelöst werden. Ich habe den Eindruck, daß alle Regierungen, die an dem Problem beteiligt sind, sich verhalten wie Gesetzlose. Ausgerechnet in einer Zeit, wo der Westen die Ostblockstaaten zu Offenheit und Freizügigkeit ermutigt, wird Vietnam durch alle Kanäle aufgefordert, seine Grenzen dichtzumachen, sozusagen Rumänien zu werden.

Sie werden in Kürze in die USA zurückkehren. Was werden Sie der Öffentlichkeit dort sagen?

Liv Ullman: Vor allem werden wir viele Informationen geben. Aber wir brauchen ein neues ethisches Denken, das ist meine Botschaft. Ein neues ethisches Denken, damit die Weltbevölkerung es sich nicht bequem macht und zuläßt, daß die Regierungen so gleichgültig reagieren, wie wir es jetzt erleben.

Das Gespräch führte Harry Oberländer