Moskaus politische Erklärung bevorteilt Aseris

Notstandsmaßnahmen von aserbaidschanischer Seite begrüßt / Armenier werden umgesiedelt / Erklärung aus Moskau greift armenische Führung an / Die Insignien des Bürgerkriegs sind Schnellfeuergewehre und Panzerfahrzeuge / Ängste vor einem neuen Afghanistan  ■  Aus Moskau Gisbert Mrozek

Um Blutvergießen zu vermeiden hätte der Ausnahmezustand viel früher verhängt werden müssen. Das ist die Einschätzung des aserbaidschanischen Vertreters in Moskau, Rusam-Sade Saur. Trotzdem hält er den Beschluß vom Montag abend, in der Provinz Nagorny-Karabach und anderen Regionen den Notstand auszurufen, für positiv. Tatsächlich tendiert Gorbatschows Verfügung zur stärkeren, zur aserbaidschanischen Seite. Armenische Stellungnahmen gibt es noch nicht.

Die Notstandsmaßnahmen für Nagorny-Karabach sind einschneidend. Versammlungen aller Art können verboten, Organisationen aufgelöst werden. Streiks sind verboten, Waffen werden beschlagnahmt, Telefone kontrolliert, Kopiergeräte stillgelegt, eine Sperrstunde verhängt. Armee, Marineeinheiten, KGB-Truppen und Innenministeriumstruppen sollen die Eisenbahnlinien bewachen. So können vielleicht wieder Brennstoff und Nahrungsmittel ins armenische Erdbebengebiet kommen.

Der kritische Punkt ist die vorgesehene vorübergehende Aussiedlung von Bürgern aus gefährdeten Bezirken wie dem armenischen Bezirk Schaumjan. Aus armenischer Sicht kann das sowohl als verspätete willkommene Hilfe aufgefaßt werden, jedoch auch den Eindruck erwecken, daß die Armee nun übernimmt, was aserbaidschanische Kampfgruppen nicht geschafft haben, nämlich die Armenier zu vertreiben. Diese Interpretation wird insofern begünstigt, als die von Gorbatschow unterschriebene Erklärung politisch für Aserbaidschan Partei ergreift. Zwar wird darin der aserbaidschanischen wie auch der armenischen Führung gleichermaßen Versagen vorgeworfen. Sie seien nicht entschieden genug gegen „extremistische, nationalistisch gestimmte Elemente“ vorgegangen. Explizit kritisiert wird aber der armenische oberste Sowjet, der im Dezember beschloß, Nagorny-Karabach als Teil Armeniens zu behandeln und einen Haushalt für die armenische Exklave verabschiedete. Zuvor hatte der Bezirkssowjet in Stepanakert den aserbaidschanischen Budgetentwurf abgelehnt. Der Haushaltsbeschluß von Eriwan sei nicht verfassungskonform und habe die Eskalation befördert.

Von den antiarmenischen Pogromen in Baku ist überhaupt nicht die Rede. Vielmehr wird die armenische Führung aufgefordert, die entschiedensten Schritte gegen nationalistische Aufwiegelei in Armenien zu unternehmen. In Richtung Baku wird „vorgeschlagen“, der oberste Sowjet Aserbaidschans möge alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, einschließlich einer Sperrstunde für Baku und Gjandsche (Kirowabad).

Die Verfügung versucht, die Kaukasusregion sicherheitstechnisch in den Griff zu bekommen. Es ist nicht einmal ansatzweise sichtbar, wie die KPdSU-Führung versuchen will, die politische Ausgangssituation zu verändern. Es scheint sogar fraglich, ob die Notstandsmaßnahmen vorübergehend greifen. Schließlich haben etwa 15.000 Mann Sicherheitstruppen monatelang kaum etwas ausrichten können. Die aserbaidschanischen Kampfgruppen aus Baku sowie die in Nagorny-Karabach und Eriwan jetzt gebildeten Selbstverteidigungsgruppen sind zum Teil Afghanistan -erfahren. Die Überfälle auf Dörfer der Gegenseite werden nach allen Regeln der Kunst - und mit allen Waffengattungen

-durchgeführt. Schnellfeuergewehre, Hubschrauber, Panzerfahrzeuge und uniformähnliche Montur mit Panzerweste sind die Insignien des Bürgerkrieges. Die Stadt Kirowabad, wo am Montag Demonstranten den sowjetischen Armeeverstärkungseinheiten den Weg nach Karabach mit sandgefüllten Lkws verlegten, soll gegen Abend mit Boden -Boden-Raketen beschossen worden sein, so die Mitteilung der aserbaidschanischen Vertretung in Moskau. Die etwa 200.000 Flüchtlinge auf beiden Seiten sind ein fast unerschöpfliches Reservoir für mittlerweile fast ungebremsten Haß - trotz aller pflichtschuldigen Appelle zur Besonnenheit sowohl von der aserbaidschanischen wie von der armenischen Seite. Im Kaukasus könnte die Sowjetarmee ein zweites Afghanistan erleben, weil Gorbatschow die Nagorny-Karabach-Dauerkrise zu lange auszusitzen versucht hat. Die Armenier haben das Mitgefühl der Weltöffentlichkeit auf ihrer Seite. Die Aserbaidschaner bauen auf 45 Millionen Moslems im weiten Süden der UdSSR. Der Konfrontation mit diesem Block versucht Gorbatschow auszuweichen. Lange wird das nicht gehen.