Atomkoloß Stendal in der Agonie

■ Nach 16 Jahren Bauzeit stehen die DDR-Reaktorbauer noch am Anfang / Von G. Rosenkranz

Es sollte das größte AKW-Zentrum der DDR mit vier sowjetischen 1.000-Megawatt-Reaktoren werden. Inzwischen herrschen auf der Baustelle bei Stendal Frust und Ernüchterung: Der Bau kommt nicht voran, die sowjetischen Lieferungen bleiben aus. Die selbstlosen Helfer aus dem Westen stehen auf der Matte. Zum ersten Mal konnten jetzt AKW-GegnerInnen das Debakel aus der Nähe begutachten.

Der Blick hinunter von der stählernen Galerie in die Tiefe des eisig-kahlen Betonsaals mit den kolossalen Ausmaßen läßt einige aus der buntbehelmten Menschengruppe leicht schaudern. Doch auch hier, im Bauch des Monstrums, bleibt es bei jener nüchternen Beherrschtheit, die den Besuch von Anfang an bestimmt. Es wird nicht mehr viel Aufhebens gemacht um die vielen kleinen Sensationen, die das große Wunder der Revolution in der DDR überall und immer noch zeugt. 16 Jahre lang blieb die gigantische Baustelle des „Kernkraftwerks Stendal“ für die BürgerInnen der Stadt fest versiegelt. Statt dessen zierten und zieren immer noch Parolen das Stadtbild: „Mit unserer Kraft für die Energie der Zukunft“. Und nun werden Atomkritiker vom Neuen Forum ebenso ungehindert vorgelassen wie die Handvoll AKW-Gegner aus „dem Westen“ in ihrem Schlepptau. Schon die Premiere trägt Züge von Normalität.

Unten, 15 Meter unter dem Besucherpodest, machen sich drei Männer mit Vorschlaghammer und Schleifmaschine ohrenbetäubend und funkensprühend am Gestell des Kondensators zu schaffen. Bisher kann man allenfalls ahnen, wo auf dem zentralen Podest aus Beton die riesigen 1.000 -Megawatt-Turbinen ihren Platz finden sollen. Denn von BlockI des AKWs Stendal steht im wesentlichen die graue Hülle des Maschinenhauses und - noch als Torso ohne die charakteristische Kuppel - der für Zu- und Ableitungen vielfach durchlöcherte Sicherheitsbehälter aus Stahl und Beton. Draußen, am Ufer der träge dahinfließenden Elbe, ragen zwei Kühltürme für den Reaktor Nummer eins 150 Meter hoch in den Himmel. Ein dritter, für den zweiten Block, ist bis zur Taille seines hyperbelförmigen Profils emporgewachsen.

Die Silhouette der monströsen Bauwerke galt den realsozialistischen Fortschrittsfetischisten noch bis vor kurzem als Beweis erfolgreicher internationaler Kooperation, insbesondere mit dem großen Bruder Sowjetunion. „Sozialistische Integration in Aktion“ tönt unverändert eine jener unsäglichen Durchhalteparolen von der Plakatwand an der Stichstraße zur AKW-Baustelle. In Wirklichkeit bahnt sich hier ein Debakel an, das seine westdeutschen Pendants in Wackersdorf, Kalkar oder Hamm in den Schatten stellen könnte. 1974 wurde die Baustelle eröffnet. Seither sind gerade 30 Prozent der vorgesehenen Investitionen für den ersten von vier geplanten 1.000-Megawatt-Reaktoren verbaut. Die beiden Blöcke des ersten Bauabschnitts sollen 17,8 Milliarden Mark (Ost) verschlingen. Die Höhe der Rechnung für die Blöcke III und IV ist „unbekannt“. Wie sollte es auch anders sein, wo nicht mal ein Liefervertrag vorliegt. Sicherlich ist es bösartig, den bisherigen Baufortschritt für eine Prognose der möglichen Vollendung des Gesamtkunstwerks zugrundezulegen: Man käme dann nämlich bei bisher verbauten vier Milliarden Mark und einer Gesamtinvestitionssumme von, sagen wir, 36 Milliarden auf einen Bauabschluß zum Jahreswechsel 2128/2129...

„Zugegeben, das sieht ein bißchen komisch aus“, gesteht Werner Schmidt, von der Besuchergruppe auf den schleppenden Fortgang der Arbeiten angesprochen. Doch habe in der Vergangenheit die Abkehr von den ursprünglich geplanten vier 440-Megawatt-Druckwasserreaktoren der sowjetischen Baureihe WWER hin zu den größeren, moderneren und mit einem Sicherheitsbehälter ausgestatteten 1.000-Megawatt -Nachfolgemodellen viel Zeit gekostet - und viel Geld. Auch das räumt der nicht unsymphatische Mitdreißiger freimütig und ohne Zögern ein.

Werner Schmidt hat Karriere gemacht. Vor der Revolution sorgte er sich als hauptamtlicher Parteisekretär auf der AKW -Baustelle um die richtige Gesinnung der bis zu 9.500 Werktätigen. Nachdem die Stellen der in der DDR in jedem Betrieb beschäftigten SED-Sekretäre der Revolution zum Opfer gefallen waren, avancierte Genosse Schmidt zum Leiter des Büros für Öffentlichkeitsarbeit. Auf dem neuen Posten tut er nun, noch etwas unbeholfen, was im Westen ganze Propagandastäbe der Atomwirtschaft beschäftigt. Er versucht, die Bevölkerung von den Segnungen der Atomenergie zu überzeugen. Das hört sich so an: Nur 65 Tonnen Urandioxid wird jeder AKW-Block in zehn Monaten „verbrennen“ und daraus soviel Strom produzieren wie ein konventionelles Kraftwerk, das acht Millionen Tonnen Braunkohle pro Jahr verbrennt und dabei 150.000 Tonnen Schwefeldioxid und 175.000 Tonnen Flugasche durch den Schornstein jagt. Bei der Berechnung der Erdbebensicherheit, plaudert Schmidt, hätten sich die realsozialistischen Reaktorbauer auf einen Wink des Himmels verlassen. Im 14. Jahrhundert läuteten bei einem Beben die Glocken in einem Gotteshaus der Nachbarschaft - ganz von alleine. Bis zur Stärke sieben auf der Richter-Skala soll das AKW Stendal deshalb künftig durchgerüttelt werden können, ohne daß gravierende Schäden zu befürchten wären. (Nebenbei bemerkt: Die AKW-Lieferanten aus der Sowjetunion haben just in diesen Tagen die Westler von Siemens/KWU beauftragt, die Standfestigkeit der 1.000-Megawatt-Meiler vom Stendal-Typ in der UdSSR zu überprüfen.)

Jeden Morgen um 5 Uhr 15 bringt eine eigens eingerichtete Eisenbahn die „Werktätigen“ die 15 Kilometer von Stendal zur Baustelle. Gearbeitet wird in 12-Stunden-Schichten sechs Tage die Woche, danach ist eine Woche frei. Die meisten Arbeiter leben ohne ihre Familien in „Arbeiterwohnunterkünften“ (AWUs), jeweils drei auf 20 bis 30 Quadratmetern. 1.900 „Werktätige aus den sozialistischen Bruderländern“ Sowjetunion, Polen, Ungarn, Kuba und Vietnam sind zur Zeit auf der Baustelle beschäftigt. Böse Spannungen, insbesondere zwischen Deutschen und Polen, versucht Öffentlichkeitsarbeiter Schmidt halbherzig und mühsam wegzureden. Angeblich erhalten die Polen, die formell bei Vertragsfirmen ihres Heimatlandes beschäftigt sind, einen Teil ihres Gehalts in Westdevisen - Ausgangspunkt für an Rassismus grenzende Reibereien nicht nur auf der Baustelle.

Die Ressentiments gegenüber der „Gruppe der sowjetischen Spezialisten“, die im Verwaltungsgebäude über einen eigenen Trakt verfügt, scheinen kaum geringer. Die Sowjets vor allem werden für den schleppenden Baufortschritt verantwortlich gemacht. Aber auch sie können den mangelnden Nachschub an Material und Blaupausen nicht herbeizaubern.

Auf die Frage, warum es 15 Monate dauert, bis jeweils einer der geplanten acht Kühltürme hochgezogen ist, hat Schmidt eine wahrlich entwaffnende Antwort parat: Da ansonsten eh nichts vorangehe, habe man die Werktätigen angewiesen, nicht so hastig bei der Sache zu sein. Tatsächlich mußte der Spannbeton aufwendig nachgearbeitet werden, weil sich an der Oberfläche Mikrorisse gebildet hatten. Umweltschützer aus Stendal berichten zudem, man habe im Zement für die ersten beiden Kühltürme salzhaltigen Ostseesand verwendet, der nun das Stahlgerüst des Spannbetons korrodiere.

Unter diesen Umständen ist für die frustierten Stendaler AKW-Oberlinge jedes Übernahmeangebot aus dem Westen von verlockendem Reiz. Dennoch glaubt niemand, daß „der Westen“ schon im ersten Bauabschnitt (BlockI und II) voll einsteigen wird. „Niemand“, ist etwa der auf der Baustelle beschäftigte Ingenieur Holger Bachmann überzeugt, „niemand kann für das, was da bisher verbaut und improvisiert wurde, die Sicherheitsgarantie übernehmen. Wenn die Sowjets nicht liefern, passiert hier nichts mehr.“ Ganz anders sieht es bei den Blöcken III und IV aus, für die es bisher nicht mal einen Liefervertrag gibt. „Es ist durchaus möglich, daß sich da noch was anderes ergibt“, meint Strahlenschutzdirektor Kurze. Mit andern Worten: Daran, daß die Sowjetunion alle vier Blöcke liefert, glaubt auch er nicht mehr.

Die trostlose Situation auf der Baustelle, die sich auf einer Fläche von sieben Quadratkilometern fast in Sichtweite des idyllischen Elbe-Örtchens Arneburg ausbreitet, hindert indes die Reaktorbauer nicht, nun erst recht die propagandistische Offensive zu suchen. Stolz präsentierte die SED-Volksstimme für den Bezirk Magdeburg vergangenen Dienstag die „erste zusammenhängende Information über das Stendaler Kernkraftwerk“ - nach 16 Jahren! Von „untadeliger, lückenlos kontrollierter Qualitätsarbeit der Industriebauer und Ausrüster“ ist dort zu lesen und von der „langen Einarbeitung und ständigem Training“ des Bedienungspersonals. Vor allem aber wird schon im Titel „der erste Strom aus Stendal“ für 1994 versprochen. Märchenstunde.

Im Neuen Forum, das landesweit den „sofortigen Baustopp aller Kernkraftwerke in der DDR“ fordert, wartet man mit gemischten Gefühlen auf die Propagandaoffensive der AKW -Befürworter. Die in der Bevölkerung vorhandene „diffuse Angst vor der Atomkraft“ müsse „mit Sachkenntnis über die Alternativen gekoppelt werden“, verlangt der Diplomgeologe Olaf Hartmann. Sonst würden die unübersehbaren Folgen des ungehemmten Braunkohleeinsatzes am Ende dazu führen, daß das Atomrisiko akzeptiert wird. Als sich die Arbeitsgruppe, etwa fünfzehnköpfig, im November erstmals traf, stand die Frage pro oder contra Atomenergie auf der Tagesordnung: Jeder zweite Daumen zeigte damals nach oben. Auch Hartmann wollte das strahlende Risiko „zur Überwindung einer Durststrecke“ akzeptieren. Das habe sich inzwischen als „sehr kurz sichtig“ herausgestellt, meint er jetzt.

Propagandisten und Gegenpropagandisten treffen selbst am AKW-Standort Stendal auf eine weitgehend ahnungslose Bevölkerung. „Viele Lehrer glauben, ihr Strom komme längst aus dem Kernkraftwerk“, spöttelt Hartmann. Kein Wunder: In zehn Jahre alten Schulbüchern erfahren Pädagogen und Schüler, das bei Stendal errichtete Kernkraftwerk gehe „bald“ in Betrieb.