Eine antiquierte Formel überlebt

■ Parlamentspräsident Wohlrabe wird auch heute die Sitzung mit den Mahnworten zur Wiedervereinigung eröffnen / Alle Bemühungen um eine Reform sind bislang gescheitert

Wenn heute mittag, pünktlich um 13 Uhr, Parlamentspräsident Jürgen Wohlrabe die Sitzung des Abgeordnetenhauses eröffnen wird, können die kalten Krieger von alten Zeiten träumen. Wohlrabe wird, wie seit nahezu 30 Jahren üblich, die Sitzung mit den Mahnworten zur Wiedervereinigung eröffnen: “...und bekunde unseren unbeugsamen Willen, daß die Mauer fallen und daß Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muß“.

Sollte allerdings den Präsidenten die zur Zeit grassierende Virusgrippe aufs Lager werfen, bricht heute der Notstand aus. Die beiden Vizepräsidentinnen nämlich, unterstützt von ihren Fraktionen, wollen die antiquierte Formel nicht mehr sprechen. Hilde Schramm, die Vertreterin der Alternativen Liste im Präsidium des Abgeordnetenhauses, hatte schon im Mai letzten Jahres für einen Eklat gesorgt. Als sie zum ersten Mal seit ihrem Amtsantritt die Sitzung mit der Formel hätte eröffnen sollen, weigerte sie sich. Es widerstrebe ihrer Überzeugung, sagte sie und forderte, daß die Formel verändert oder abgeschafft werde. Damals beschloß der Ältestenrat, eine Kommission, bestehend aus allen vier Parteien, einzusetzen, die einen neuen Entwurf erarbeiten sollte. Doch bis in den November hinein passierte gar nichts. Erst der 9.November, die Öffnung der Grenze, brachte die Debatte wieder ins Rollen. An diesem Tag nämlich erklärte auch die zweite Vizepräsidentin, Marianne Brinkmaier, daß sie die Formel aus dem Jahr 1962, dem Jahr als die Mauer gebaut wurde, nicht mehr sprechen will. Wohlrabe blieb als einziger Garant für das historische Erbe übrig. Seither eröffnet er jede Sitzung.

Die Alternative Liste ist inzwischen dafür, die Formel völlig zu streichen, und die Sozialdemokraten haben sich dieser Auffassung jetzt angeschlossen. CDU und „Republikaner“ wollen, daß bis zum 6. Mai, dem Wahltermin in der DDR, alles bleibt wie es ist. Der Präsident wird also weiter den Willen des Abgeordnetenhauses zur Wiedervereinigung, zu Berlin als deutscher Hauptstadt und daß die Mauer fallen muß „bekennen“. Daß er die Formel aus einer offenen Stadt zu einem Volk, das sich selbständig zur Demokratie entschlossen hat, spricht, scheint ihm offenbar nicht absurd. Im Gegenteil. Wohlrabe beklagte kürzlich noch die „mangelnde Würde des Hauses“ bei seinen Eröffnungsworten. Wohlrabe meint damit die AL- und SPD -Abgeordneten, die sich nicht ergriffen erheben, sondern sitzen bleiben oder gar rumlaufen.

Die Vizepräsidentin Hilde Schramm war nicht die erste, die sich weigerte, das Bekenntnis zur Wiedervereinigung und der Hauptstadt Berlin zu sprechen. Am 25.März 1982 sagte der damalige Präsident Alexander Longolius (SPD) nein. Damals wurde die Sitzung dann vom Vizepräsidenten Klaus Franke (CDU) eröffnet. Schon damals hatte der SPD -Deutschlandpolitiker Longolius die ersatzlose Streichung der Formel für denkbar gehalten. Auf jeden Fall aber sollte das Wort „Einheit“ nicht mehr auftauchen. Er wollte den Begriff der Selbstbestimmung in der Formel verankert wissen und den Wunsch nach „Überwindung alles Trennenden in Europa“. Longolius weiter: „Sitzen bleiben!“

bf