Was die Liebe verzögert

■ Ein Gespräch mit dem französischen Regisseur Bertrand Tavernier, anläßlich seines neuen Films „Das Leben und nichts anderes“

Gerhard Midding

Gerhard Midding: Monsieur Tavernier, „La vie et rien d'autre“ behandelt eine Epoche, die sich das Kino bisher nur selten erschlossen hat: die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Was war Ihr Ausgangspunkt für diesen Film?

Bertrand Tavernier: Es gibt nicht immer nur einen Grund, einen Film zu machen. Ich erinnere mich aber sehr genau an Bilder aus John Houstons Dokumentarfilm The Battle of San Pietro, die mich sehr berührt haben: Menschen, die aus den Ruinen hervorkommen und zum ersten Mal wieder über die Straßen gehen, eine Frau, die zum ersten Mal wieder lächelt. Der Film ist einer der wenigen aus jener Zeit, der den Zivilisten viel Platz einräumt. Da ich bei einem historischen Film immer mehr an den Konsequenzen als an den historischen Tatsachen interessiert bin, haben mich diese Momente sehr berührt.

Beiden Filmen ist gemeinsam, daß sie von Menschen handeln, die aus dem Reich des Todses wieder zum Leben zurückkehren.

Das Glücklichsein wieder zu erlernen, ist nicht leicht und kostet Zeit und Anstrengungen. Das ist gerade die Erfahrung Dellaplanes, den Philippe Noiret spielt: Er mußte zu lange in der Welt des Todes leben. In diesem Film wird auch nichts vollständig abgehandelt, er beschäftigt sich immer nur mit dem Anfang von Dingen: dem Wiederaufbau eines Landes, dem Anfang einer Liebesgeschichte. Das Einzige, was wirklich abgeschlossen wird, ist die Suche nach dem unbekannten Soldaten. Über alle Figuren kann man sagen, daß sie nur ganz vorsichtige Schritte tun: die wirkliche Handlung beginnt für sie erst nach dem Ende des Films. In dieser Hinsicht ist der Film vielleicht origineller, als er auf den ersten Blick wirkt, darin unterscheidet er sich zum Beispiel von amerikanischen Filmen, die alles vollständig von A bis Z abhandeln.

Mich interessierte ein Filmende, das musikalisch und nicht dramatisch war. Die Handlung wird nicht mit einer dramatischen Szene abgeschlossen, sondern mit Musik, mit einer Stimme, ein Ende, über das man man träumen kann, das der Phantasie Spielraum läßt. Ich mochte die Idee, mit einem Brief aufzuhören, denn ich wollte ein beiläufiges Ende, wie eine Coda im Jazz.

Das macht auch die Liebesgeschichte so bemerkenswert: Die meiste Zeit über ist man sich gar nicht sicher, ob es überhaupt eine wird.

Das ist sehr häufig kritisiert worden: die Liebesgeschichte finge zu spät an und sei zu oberflächlich abgehandelt. Aber es geht gar nicht um eine Liebesgeschichte, es geht um deren Anfang. Die wirkliche Geschichte wird passieren oder nicht passieren, wenn das letzte Bild des Films vorbei ist. Das widerspricht offensichtlich dem konventionellen Denken. Dabei handelt der Film von all dem, was diese Liebe verzögert und behindert. Mir ging es nie um die psychologische Studie einer Liebesbeziehung, mir ging es um die Geschichte zweier Menschen, die weit voneinander entfernt sind und sich dennoch näherkommen.

Die Beziehung der beiden entwickelt sich ausschließlich durch Konfrontationen, die auch sehr viel mit den Themen und Motiven des ganzen Films zu tun haben. Dies gilt auch für die zentralen Beziehungen Ihrer früheren Filme, aber da ging es zuerst immer nur um die Konfrontation zwischen Männern.

Das ich richtig: Es sind die exakt gleichen Beziehungen, aber die Frauen sind - seit Deathwatch, würde ich sagen

-immer wichtiger geworden. Vielleicht fühle ich mich heute sicherer im Umgang mit Frauenfiguren. In La vie... ist es ja auch der Impuls der Frau, der sie einander näherbringt, auch wenn ihre Liebeserklärung ihn erschreckt. Was eine nicht ungewöhnliche Reaktion des Mannes ist - das ist mir selbst schon oft passiert. Hier gehört die Reaktion ganz logisch zum Charakter Dellaplanes, er ist ein sehr tapferer Mann, der alle Dinge regeln und organisieren kann, aber angesichts einer Frau, angesichts des Lebens, benimmt er sich wie ein Kind, wie die blutjungen Soldaten, die er befehligt. Sie muß sich in diesem Fall wie ein Soldat benehmen, sie muß ihn angreifen. Diese Umkehrung hat mich sehr interessiert.

Noch einmal zurück zur Idee der „Rückkehr zum Leben“: Haben Sie die Farbdramaturgie bewußt danach ausgerichtet, anfangend bei Grauschattierungen, dann gedämpfte Farben und schließlich kräftigere?

Ich wollte unbedingt gedämpfte Farben in diesem Film. Ich fühle mich sehr stark angezogen von den frühen britischen Technicolor-Filmen, vor allem natürlich von den Filmen Michael Powells. Dort sind die Farben nicht grell und leuchtend, sie sind sehr gedämpft, beinahe monochrom, aber es gibt immer eine Farbe, die dominiert, zum Beispiel die der Uniformen in Colonel Blimp.

Ich zeigte meinem Kameramann diesen Film, und er war außer sich: Die Konzeption der Farben war so modern. Aber heute lassen sich diese Effekte nur sehr schwer erreichen, denn es gibt das Technicolormaterial nicht mehr. Drei, vier Monate lang machte er Tests im Labor, bis er eine Technik fand, die zu ähnlichen Effekten führt.

Bei den Bauten und den Kostümen fingen wir an, einige Farben zu eliminieren. Unser Hauptgedanke war, das Blau in den meisten Einstellungen beizubehalten, das Blau der Uniformen, das Blau der Flagge und das Blau des Winterlichts. Es stimmt, daß sich im letzten Teil die Palette erweitert, in der Kirchenszene tauchen einige Farben auf, die wir zuvor noch nicht gesehen haben. Und am Ende gibt es dann eine ganz neue Farbharmonie. Natürlich wollte ich, daß die Farbdramaturgie der Entwicklung der Emotionen im Film entspricht, das ist absolut richtigt. Unter anderem deshalb haben wir auch den Winter gewählt, weil zu dieser Zeit die Farben viel gedämpfter sind.

Akzeptieren Sie für den Film die Charakterisierung als „Fresko“?

Ja, diese Bezeichnung ist nicht ganz falsch. Ich wollte einen Film machen, der ein Gefühl der Weite vermittelt: weitausgreifende, umfassende Bilder, weite Kamerawinkel. Das ist sicher auch eine Reaktion auf die vielen „engen“ Filme heutzutage, die vom Fernsehen beeinflußt worden sind. Dort werden alle Leute in Großaufnahmen gezeigt, sie gehen über die Straße, und nach zwei Schritten schneidet man schon auf eine Großaufnahme des Gesichts. Ich wollte einen Film über intime Gefühle machen, die aber immer verbunden sind mit gemeinschaftlichen, kollektiven Gefühlen. Wir haben uns daran gehalten, Noiret nur ganz ganz selten allein in einer Kameraeinstellung zu zeigen, es gibt immer noch andere Menschen im Bild, und Noiret wird zu einem Teil dieses Hintergrunds. Sabine Azema ist viel häufiger im Bild isoliert, aber Philippe hat zum Beispiel nur ganz, ganz wenige Großaufnahmen. Mir geht es immer darum, eine Figur in eine emotionale Beziehung zum Hintergrund und zum Dekor zu setzen.

In der letzten Zeit haben mir nur sehr wenige Regisseure ein wirkliches Gefühl für einen Schauplatz vermittelt. John Ford, Henry King und wenige andere konnten das. Ford hat auf diesem Gebiet unglaublich mutige Dinge gemacht: er filmt vieles aus der Distanz, denn es geht ihm immer um eine Gemeinschaft, und trotzdem sind die Emotionen da. Wieviele Großaufnahmen hat Henry Fonda in Früchte des Zorns? Und trotzdem ist der Film voller zutiefst emotionaler Momente, an die man sich erinnert.

Vielleicht gehen die Parallelen zu John Ford noch weiter: Hat die Figur des Dellaplane nicht auch etwas von den pflichtbewußten, dabei aber rebellierenden Offizieren in Fords Western?

Ja, Dellaplane zeichnet ein gewisses Bewußtsein für Werte aus, das nicht allein auf ihn selbst bezogen ist, sondern auf die gesamte Gemeinschaft. In dieser Hinsicht ist er ein Fordianischer Charakter.

Gleichzeitig führt er aber auch die Linie der Rollen fort, die die Institutionen ganz stark in Frage stellen.

Ja, er hegt durchaus anarchistische Gefühle, vor allem seinen Vorgesetzten gegenüber. Im Saustall spielte Philippe ja sogar eine Figur, die nicht den geringsten Respekt vor Institutionen empfindet. In La vie... wollte ich aber eine Figur haben, die die Armee in Frage stellt, aber nicht grundsätzlich gegen die Armee ist. Denn seine Fragen wirken viel stärker, wenn sie vom einem pflichtbbewußten Offizier kommen - wenn er die Armee hassen würde, wären die Fragen weniger effektiv. Und das interessierte Philippe als Schauspieler sehr. Und viele Historiker bestätigten mir nach dem Film, daß diese Figur historisch völlig korrekt war: in diesem Kriege muß es viele solcher Offiziere gegeben haben, die der Republik treu ergeben waren, aber trotzdem Zweifel hegten, in ihren Briefen über die Befehle ihrer Vorgesetzten klagten und eine durchaus anarchistische Haltung hatten.

Wie erlangten Sie ein solch facettenreiches Bild der Epoche? Geht eine Figur wie die des Bildhauers auf Recherchen zurück oder auf eigene Ideen?

Die Figur des Bildhauers geht zurück auf eine Idee des Drehbuchautors Jean Cosmos, der mit sehr vielen Malern und Bildhauern befreundet ist. Aber die Figur wurde auch sehr stark geprägt von dem, was wir über die Epoche herausfanden. Ich war zum Beispiel von Anfang an besessen vom Denkmal im Arc de Triomphe und bat Jean, Nachforschungen über die Denkmäler aus dieser Zeit anzustellen. Er fand heraus, daß die ersten sechs oder sieben Jahre nach dem Krieg eine sehr lukrative Zeit für Bildhauer waren, denn fast jedes Dorf bestellte für sich ein Kriegsdenkmal. So ist die Figur des Bildhauers also eine logische Antwort auf die Situation, wie sie sich nach unseren Recherchen darstellte. Man muß sich beim Schreiben immer für Fakten öffnen, die ganz überraschend auftauchen können.

Bei einem historischen Film will ich eine Epoche wirklich spüren und kennen, will, daß meine Figuren zeitgenössische Charaktere sind. Ich will in eine Epoche eintauchen, will wissen, wie man damals aß, was man dachte, was für Vergügungen sich die Menschen damals verschafften. Die Daten interessierten mich nicht, aber alles Physische und Pragmatische kann mir plötzlich Ideen für die Charaktere geben. Dellaplanes Soldaten sind zum Beispiel sehr jung, sie kommen aus gehobeneren Klassen, denn die jungen Leute aus den niedrigen Klassen sind zu einem Großteil im Krieg gefallen. Die Soldaten kennen sich mit der Arbeit nicht so gut aus, wissen nicht, wie man eine Schaufel handhabt usw. Die meisten der Zivilisten sind Bauern, und es entspricht nicht ihrer Natur, nutzlos herumzustehen, also fassen sie mit an bei der Arbeit.

Es geht in dieser Zeit ja auch darum, daß die Menschen das Vergnügen an der Arbeit wiederentdecken. Ich wollte, daß in jeder Einstellung irgendetwas gearbeitet wird. Das sieht man in französischen Filmen im übrigen selten; wir arbeiten nicht viel in unseren Filmen! Nun, durch die gemeinsame Arbeit der Soldaten und Zivilisten konnte ich eine Beziehung herstellen zwischen diesen beiden Gruppen. Daraus entstand dann die Idee zu dem Picknick, die trinken gemeinsam etwas, sie teilen etwas.

Ich konsultiere auch keine Historiker während der Dreharbeiten, vorher vielleicht, aber ich ziehe es vor, meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Der Film soll eine Interpretation, ein Traum dessen sein, was recherchiert wurde. Denn es geht mir nicht um eine Rekonstruktion der Fakten, sondern um die Atmosphäre und die Emotionen in einer bestimmten Epoche. Und darum, diese Emotionen in diesen Hintergrund zu verwurzeln.

War es schwierig, während der Drehbucharbeiten bereits die häufigen Wechsel im Erzählen unter Kontrolle zu behalten?

Nein, das war für mich ganz und gar nicht schwierig! Ich liebe den Wechsel der Tonart innerhalb eines Filmes, das habe ich im übrigen auch immer gemacht. Merkwürdigerweise fanden die Leute, die den Film finanzieren sollten - die Verleiher, die Fernsehleute, freilich nicht der Produzent, der die ganze Zeit an den Film geglaubt hat -, daß er nicht im mindesten witzig ist. Nicht im mindesten! Merkwürdig, daß die Leute, die uns helfen sollten, den Film zu machen, nicht in der Lage waren, das nach dem Lesen des Buches einzuschätzen! Die Schauspieler haben viel gelacht beim Lesen des Buches, ebenso das Publikum in den Vorstellungen. Ich selbst finde den Film auch sehr witzig, er ist für mich eine Kreuzung aus Ein Sonntag auf dem Lande und Der Saustall.

Das wirkliche Problem beim Schreiben des Drehbuchs war für uns jedoch, die Balance zu finden zwischen den intimen Gefühlen und dem Hintergrund.

Ich glaube, aus diesem Grund folgt die Kamera in „La vie...“ auch anderen Strategien als in Ihren früheren Filmen.

Die Kamera muß für mich nicht immer den Bewegungen der Schauspieler folgen. Sie nähert sich ihnen sehr schnell und verändert dadurch den Rhythmus der Szenen. Ich begreife die Kameraarbeit also durchaus musikalisch, sie beschleunigt oder verlangsamt den Rhythmus. Ich habe es auch in meinen früheren Filmen geliebt, die Kamera zu bewegen, aber niemals so lyrisch und analytisch wie in den Szenen beim Tunnel. Dort wandert die Kamera von einer Figur zur anderen und verbindet alle Elemente. Ich fange zum Beispiel an mit einem Soldaten, der eine Familie zum Tunnel führt, dann geht plötzlich Sabine Azema durch die Szene, und durch sie läßt uns die Kamera entdecken, was die Menschen im Hintergrund tun. Dann finden wir plötzlich die Familie wieder und nähern uns dem Tunnel. Man hätte auch einfach nur der Familie folgen können oder die Szene in lauter kürzere Einstellungen auflösen. Aber ich wollte verschiedene Figuren und Elemente aufgreifen und sie miteinander verbinden, miteinander in Beziehung setzen, zeigen, daß jede Figur nur eine unter vielen ist.

Wie formt Philippe Noiret die Rollen in Ihren gemeinsamen Filmen?

Niemals durch Dialogänderungen! Er vertieft sich zuerst in die physischen Aspekte einer Figur. Das liebt er sehr, er beginnt schon ein Jahr vor den Dreharbeiten, die Requisiten auszusuchen. Den Stock fand er zum Beispiel auf einem Markt in Montpellier. Das Picknickgeschirr, das er Sabine gibt, ist sein eigenes. Wir sprechen viel über die Körperhaltung der Figuren, die Art etwa, wie er im neuen Film seinen Arm hält. Durch diese Details fangen die Figuren an zu funktionieren. Wir sprechen fast nie über Motivationen, wir leisten keine Psychoanalyse der Figuren. Ich sage ihm zu Anfang Dinge wie: „Ich will, daß du sehr schnell sprichst in diesem Film“ oder: „Ich möchte, daß du verzweifelt aussiehst, aber niemals mürrisch. Du bist nicht wütend, aber du steckst voll von gewaltsam zurückgehaltener Verzweiflung. Die versteckst du, und deshalb bist du die ganze Zeit über gereizt.“ Das war praktisch alles, worüber wir sprachen, das Tempo der Diktion und der Bewegungen.

Während des Drehens ist er ein bißchen wie ich: Er liebt die Arbeit, will sie aber auch vergessen können und über die Figur träumen. Er hat seine Hausarbeiten vorher schon gemacht, er kennt die Figur sehr gut, aber dreißig Prozent ihres Charakters möchte er erst während des Spielens entdecken. Und es ist so einfach, mit ihm zu arbeiten, er ist ein Traum für jeden Regisseur. Er akzeptiert es, aus der Distanz oder von hinten aufgenommen zu werden, er besteht nicht ständig auf Großaufnahmen. Und man muß mit ihm nicht bei eisiger Kälte über die Motivation der Figur diskutieren, während das ganze Team wartet. Das habe ich auch schon erlebt, mit anderen Schauspielern, und das erschöpft jeden. Mit einem schwierigeren Schauspieler hätte ich den Film niemals in der Rekordzeit von acht Wochen abdrehen können. Solch einen Film in acht Wochen zu drehen, und das im November und Dezember, wo man gerade fünf Stunden Tageslicht für die Außenaufnahmen hat. Wir haben schnell, schnell, schnell gedreht, gegen all die Zweifel und Unsicherheiten, die ich selbst bei jeder Einstellung hatte.

Zu seinen größten Qualitäten gehört, daß er offen ist für andere Schauspieler. Sabine brachte er große Zuneigung entgegen. Er wußte, daß es für sie eine schwierige Rolle war, und er widmete ihr eine ungeheure Aufmerksamkeit. Jedesmal, wenn wir in ein anderes Hotel umzogen, fand sie abends in ihrem Hotelzimmer einen neuen Strauß Blumen und eine Notiz von ihm! Dabei siezen sie sich heute noch, obwohl sie ständig zusammen waren. Noiret ist ein Schauspieler ohne Egoismus und Selbstsucht, er versteht es, andere zu beruhigen, und deshalb liebt es jeder, mit ihm zu arbeiten. Sabine und er kamen wunderbar miteinander aus. Die Szenen im Theater beispielsweise, für die wir zweieinhalb Tage eingeplant hatten, schafften sie an einem einzigen Tag.

Und es gab keine Schwierigkeiten, diese beiden Temperamente miteinander arbeiten zu lassen? Ich stelle mir vor, daß Sabine Azema für sich einen ganz anderen Spielgestus und -rhythmus findet als Noiret.

Aber Noiret kann sich auf andere Schauspieler einstellen. Er kann sich ihrem Rhythmus anpassen, er weiß, wie er reagieren muß. Sabine ist aber tatsächlich ganz anders als er. Sie besitzt eine starke Persönlichkeit und ist viel weniger präzise als Pilippe. Sie sagt oft: „Ich weiß nicht, was ich tue, wenn ich spiele!“ Sie springt plötzlich in die Szenen hienein, die Resultate sind wunderbar; dann vergißt sie auch mal ihren Dialog oder macht einen Fehler. So instinktiv, wie das nun klingen mag, ist ihre Herangehensweise nun freilich nicht, sie hat schon lange an den Szenen gearbeitet. Aber sie bereitet nicht jeden Effekt präzis vor, sie läßt sich oft von der Aufregung mitreißen.

Es ist wirklich aufregend, mit ihr zu arbeiten. Sie hat ein ungeheures Timing, gerade für komische Szenen. Und sie versucht nie, sich selbst zu schützen. Sie hat nicht versucht, die klassenspezifische Gemeinheit ihrer Figur herauszuspielen. Der Film war immer eine Herausforderung für sie. In ihren letzten Filmen spielte sie immer sehr junge Frauen, ich wollte, daß sie eine Frau spielt, die reifer wird, die andere Aspekte im Leben schätzen lernt. Und ich denke, das gab sie mir. Sie öffnete sich in einem Maße, in dem sie es in den letzten Filmen nicht getan hat.

Sie ist technisch nicht perfekt - fast keine französische Schauspielerin. Die Deneuve ist vielleicht eine Ausnahme, und auch Isabelle Huppert kontrolliert sehr genau, was sie tut. Aber die meisten lassen sich vom Gefühl leiten. Das ist kein Werturteil, sondern die Beschreibung verschiedener Stilrichtungen. Technisch perfekte Schauspieler werden durch ihre Technik ja auch oft davon abgehalten, sich einer Rolle zu öffnen. Aber Sabine kennt die Intentionen, die Stimmungen einer Szene genau, und das gibt ihrem Spiel diese ungeheure Intensität.