: "Uns geplageten und durch die Pest sehr geschwächeten Leipzigern"
■ Bericht über die "1.Volksbaukonferenz" der DDR in Leipzig, über die Klage der Leipziger, über die Macht der "Plattenmafia", über die Kränkung des Stadtstolzes und...
Ausländer: Wie wäre es, wann Leipzig gar nicht vorhanden wäre. Man kan ja wohl Waren anderswo finden. Leipzig hin, Leipzig her! Wer kümmert sich um Leipzig
Leipziger: Er ist der rechten Einer, die gerne sehen möchten, daß Leipzig gar unterginge. Was Handel und Wandel, sonderlich was der Stapel und die Messen betrifft. Uns geplageten und durch die Pest sehr geschwächeten Leipzigern solte man nicht so hart mitfahren
Grimmindus Podagricus: „Grillenhafte Pest- und Kriegsgedanken“, 1683
1. Sisyphos läßt es sein
Am Schluß seines Referates suchte Dr. Klein Trost bei Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Doch kann es etwas Trostloseres geben, wenn ausgerechnet der für die Ökonomie verantwortliche Direktor der Bezirksbauverwaltung Leipzig in diesem Zitat Hoffnung sucht? Ist Leipzig noch zu retten? - das war nicht zufällig der Titel der Auftaktsendung des ersten kritischen DDR -Fernsehmagazins, das nach der Wende ausgestrahlt wurde. Es war auch der unausgesprochene Titel der „1.Volksbaukonferenz“, die am vorletzten Wochende in Leipzig stattfand.
„Leipzig ist zu retten, wenn die DDR zu retten ist“, postulierte Dr. Klein. Aber er suggerierte wohl auch die umgekehrte Logik: Läßt sich Leipzig retten, kann vielleicht die DDR gerettet werden. 50.000 Einwohner hat die Stadt in den letzten 22 Jahren verloren, in einer Zeit, in der in Europa die Großstädte wachsen. Was kann die Menschen noch an das „todkranke Stadtindividuum“ (Architekt Schikoleit) binden? Wieviel Leipziger werden noch die Stadt verlassen? Lähmende Fragen. Wolfgang Geißler formulierte das Problem der Volksbaukonferenz in nüchterner Fachsprache: „Die Qualität der Bauleistung zeigt sich daran, wieviel Menschen noch hier bleiben werden.“
„Heldenstadt Leipzig“, die Stadt der friedlichen Revolution, der „ersten Revolution, die auf deutschem Boden gelang“ (Stefan Heym). Und nun die Stadt der Wiedervereiniger, die Stadt der wachsenden Wut auf die Roten? Eine Wende? Oder tritt nicht das längst schwelende Desaster, das Stadt-Desaster nun erst zutage? Auch wenn es dafür vorher keine Öffentlichkeit gab, Sinn-Bilder gab es schon. Einer der vier Großen der „Leipziger Schule“, der Maler Wolfgang Mattheuer, hatte in den siebziger Jahren eine Sisyphos-Serie gemalt. Sisyphos behaut den Stein: In einer Mülldeponie meißelt ein Arbeiter die bekannte Arbeiterfaust aus einem Steinbrocken. Im Hintergrund rauchende Schornsteine, Smog und drei Nichtstuer, die feixend zuschauen.
Oder: Die Flucht des Sisyphos - ein Mann im verschwitzten Unterhemd rennt vom Stein weg in ein düsteres Tal, von Industriewolken verhangen. Im fahlen Licht einer untergehenden Sonne erkennt man industrielle Wohnungsbauten, einen verdunkelten Stadtkern. Es ist das Leipziger Licht. Der Arbeiter flieht vor der sinnlosen Mühe, aber ohne Hoffnung, ohne Ziel. Vor seinen Augen liegt nichts, was ihn anziehen könnte. Die Herrschenden hätten besser die Gemälde studieren sollen, statt den Maler mit dem Nationalpreis zu würdigen.
Wolfgang Mattheuer hatte noch vor Jahren vehement die DDR -Kultur verteidigt. Im Sommer verließ er die SED. Jetzt gehört auch er zu den „Wiedervereinigern“. - Was also kann Sisyphos zum Dableiben bewegen? Was kann ihn von der realen oder von der inneren Flucht aus dieser Stadt abhalten? Die „Volksbaukonferenz“ bot viele Formeln, alte und erneuerte Schlagworte auf. Sie beschrieb den Stein und die Wegstrecke der sinnlosen Mühen. Aber Mattheuers fahles Licht unter einem schmutzigen Himmel beleuchtete die Suche nach Rettung.
„Leipzig ruft dem Beschauer keine altertümliche Zeit zurück; es ist eine neue, kurz vergangene, von Handelstätigkeit, Wohlhabenheit, Reichtum zeugende Epoche, die sich in diesen Denkmalen ankündigt.“ Goethe, 1812
2. Nikolaistraße 31
Die Nikolaistraße führt vom „Brühl“ zur Nikolaikirche, der ältesten Kirche Leipzigs, der Kirche der „Friedensgebete“. Der Name „Brühl“ ist Synonym für Leipziger Wohlstand und Handelsmacht. Die „Pelzjuden vom Brühl“, Treffpunkt der Ostjuden, Ort der Kontore, Werkstätten und Messehäuser der „Könige vom Brühl“, Mäzenaten von Rang. Der „Brühl“ machte die Messestadt zur Rauchwarenmetropole Europas. Noch heute kündigt, wenn man aus der Osthalle des Leipziger Bahnhofes heraustritt, eine Leuchtschrift: „Pelzwaren vom Brühl“. Die Häuser der Nikolaistraße künden von Modernität und Handelstradition. Um die Jahrhundertwende gebaut, in der typischen Leipziger Mischung von Neobarock und Jugendstil: eine Fassadenabwicklung voller Eleganz, Prunk und nüchternem Geschäftssinn. Der Glanz allerdings ist verloschen unter der aggressiven Schmutzschicht. Der Denkmalpfleger Hocquel, einer der Initiatoren der Konferenz, zeigt mir die Verzierungen, die Köpfe der Pelztiere, die hier ihr Fell lassen mußten.
Und dann stehen wir vor der Nummer 31: Wolfgang Hocquel zuckt nur hilflos die Schultern. Tatsächlich ist die Nummer 31 unbeschreibbar. Eine Baulücke, in die ein städtebaulisches Vakuum hineingebaut wird. Plattenbau, gestapelte Wohnungen, die auf die sprichwörtliche grüne Wiese gehören. Eine Plattenreihe ist, gewissermaßen in Huldigung der historischen Umgebung mit einem Querband aus rotem Mosaik verziert - stumpfsinnige Verzierung einer stumpfsinnigen Funktionalität.
Was hier sprachlos macht, hat einen Namen: WBS70BR87. Es handelt sich dabei nicht um einen Hausbau, wie der empörte Betrachter meinen könnte, sondern um ein „Erzeugnis“. Für den Chefarchitekten Dietmar Fischer wird durch dieses Erzeugnis „die von vorneherein gewählte Gestaltungsvielfalt weiter verdeutlicht“. Ihm zufolge ist es ein Erfolg, daß mehr und mehr die „Kräne des Baukombinats“ zum „prägenden Faktor“ der Innnenstadt geworden sind; daß die „Platte“ nicht nur in den Vorstädten montiert wird, sondern auch die Baulücken in der Innenstadt schließt. Fischer in einem Papier, das der Volksbaukonferenz vorlag: „Mit Fug und Recht können wir sagen, die Richtung des Bauens in unserer Stadt stimmt.“ Ein schlechter Prophet. Er hat die Konferenz nicht überlebt. Mitte letzte Woche trat er von seinem Amt zurück. Das Haus Nikolaistraße 31 ist nicht nur eine „Kulturschande“, wie es ein Teilnehmer formulierte, es ist ein Symptom einer zerstörerischen Logik, ist der ins Stadtinnere vorgeschobene Brückenkopf der Plattenkombinate. Nachdem die „Platte“ durch „extensiven Neubau“ Leipzig von den Vorstädten her aufzulösen begonnen hat, rüsten die „Erzeugnisse“ zum Angriff auf die Innenstadt. Die „Platte“, die bisher nur den rechten Winkel kannte und keine Ecklösung erlaubte, soll jetzt das Bauen „in der vorhandenen Gebäudeflucht“, soll die „Variabilität der oberen Gebäudeabschlüsse“, soll „Funktionsunterlagerungen“ ermöglichen. Der qualitative Sprung von WBS70 zu WBS70BR87 also. Die Nikolaistraße 31 ist ein Brückenkopf im Krieg der Plattenmonopole gegen das selbstproduzierte Nirwana. Und Ironie der Geschichte: Auf der Seite der Monopole stehen nicht nur die um ihren Arbeitsplatz besorgten Montagearbeiter, sondern auch die Behinderten. Die Nikolaistraße 31 sollte der erste behindertengerechte Neubau in der Innenstadt sein.
„Leipzig hat mit seinen Bauten entschieden Glück„Alfred Lichtwark, 1895
3. Postkartenschnipsel
So schön wie Dresden war Leipzig nie. Die handelstüchtigen Bürger kümmerten sich wenig um städtische Generalansichten, und den Gelüsten der sächsischen Könige nach monarchischer Verewigung konnten sie sich immer trickreich entziehen. Dennoch entwickelte sich in der Stadt eine solide Baukultur. Mit dem Reichtum der Messestadt kam die bürgerliche Repräsentation, ein prunkendes aber feingliedriges barockes Stadtbild, mit den Dominanten der beiden großen gotischen Kirchen und dem wunderbaren Renaissance-Rathaus. Aus den Messehöfen, von Goethe „Halbstädte“ genannt, mit ihren Kontoren, Werkstätten und Läden entwickelte sich ein System von Passagen.
Der rasante Aufstieg zur Industriestadt im 19.Jahrhundert brachte für die relativ kleine Innenstadt, die von einem Promenadenring auf den ehemaligen Festungsmauern vom Rest der Stadt abgesetzt war, eine Abfolge wilhelminischer Bauten, die die Innenstadt umgürteten. Die Gründerzeit bestimmte auch die Stadterweiterung, das Bauen in den inneren Vorstädten. Ein dichtes Stadtbild, das die erprobten Protagonisten der „behutsamen Stadterneuerung“ der Kreuzberger IBA (Internationale Bauausstellung) jetzt noch in Entzücken versetzte, trotz des rabiaten Verfalls und der Brachflächen von WBS70.
Dabei hat es jenes wilde gründerzeitliche Bauen in Leipzig nur begrenzt gegeben. Die Industrievororte wurden planvoll angelegt. Im Leipziger Westen, insbesondere in Lindenau entstand nach den genialen Plänen Karl Heines eine beispielhafte Durchflechtung von Industriebauten, Eisenbahnanschlüssen, Wasserwegen und Wohnquartieren. Hinzukommen vorbildliche Arbeitersiedlungsprojekte, die „Meyerschen Häuser“, genannt nach dem Initiator, dem Verlagsbuchhändler Julius Meyer (Meyers -Konversationslexikon): Blocks mit mehrgeschossigen Reihenmietshäusern mit großzügigen Innenhöfen für Kleingärten. Ein Siebtel eines Arbeiterlohnes sollte diese Anlagen tragen, Anlagen einer schmucklosen, intelligenten Architektur.
1945 war, wie Prof. Thomas Topfstedt betonte, in Leipzig keine Stunde Null. Leipzig hatte Glück gehabt, die Bombenzerstörung insgesamt betraf „nur“ 25 Prozent der Bauten. Aus eigener Kraft setzten die Leipziger einen großen Teil der Bausubstanz wieder instand, reparierten die schwer zerstörten Messehäuser und schützten die Ruinen vor dem Verfall, den Burgplatz, das Bildermuseum, den Universitätskomplex, das Neue Gewandhaus, um dann zu erleben, daß die sorgsam gesicherten Ruinen in den sechziger Jahren doch beseitigt wurden.
Vom 15.November bis zum 11.Dezmber 1949 wurde im Rahmen der Bauaustellung das Projekt Planung und Wiederaufbau vorgestellt und öffentlich diskutiert. Die Maximen hatten einen breiten Konsens: Bewahrung des Raumgefüges, Bewahrung der historischen Identität, traditionsverbundener Wiederaufbau. Behutsame Stadterneuerung also. Damals gab es noch die Landesregierung Sachsen, die dem Projekt Gesetzeskraft gab.
Mit der Auflösung des Landes Sachsen geriet die Stadt unter das Diktat von Berlin. Mit den Worten von Topfstedt: „In den folgenden Jahrzehnten wurde das Baugeschehen aus den Händen der Leipziger Fachleute - sprich Städtebauer und Architekten - genommen, wie auch die demokratische Öffentlichkeit in die Sprachlosigkeit gezwungen wurde. Eine dirigistische Baupolitik von außen, zentral gelenkt vom Bauministerium und der Deutschen Bauakademie, führte dazu, daß die örtlichen Stadtplaner zu Exekutoren von in Berlin gefaßten Beschlüssen wurden. Es kam in den sechziger Jahren die hohe Zeit der Abrißstrategen und anonymer Baubürokraten. Ihre Willfährigkeit wurde nur noch durch die Servilität und Inkompetenz des Leipziger Stadtparlaments übertroffen.“
Ergebnis: die „stupide Leere“ des Sachsenplatzes; Zerstörung des Stadtraumes am Alten Rathaus durch Rückversetzung aus der alten Baufluchtlinie, ein Hochhäuser -Kamm am Brühl, der das traditionelle Stadtbild verstellt. Heute wirkt die Innenstadt wie eine halbvergessene Melodie, deren Erinnerung nicht gelingt, weil eine Kreissäge sie unterbricht.
Eingangspforte der Stadt war der Augustusplatz, jetzt Karl -Marx-Platz: das imposante spätklassizistische Theater, die Kunsthalle, die wilhelminische Universität mit der gotischen Universitätskirche, das Krochhochhaus mit den vom Markusplatz abgekupferten bronzenen Glöcknern. Den Leipzigern wurde eine moderne Messestadt versprochen. 1968 wurde die Kunsthalle und die Universität abgerissen. Da die gotische Universitätskirche sich an die Universität anlehnte, wurde sie - wiewohl es niemals ausdrücklich geplant war - kurzerhand mit gesprengt. Erich Loest war dabei: „Früh am Morgen war ein Sicherheitskreis von dreihundert Metern gezogen... Die Stadtherren wollten die Leipziger weit genug von der Kirche fernhalten. Nur vom Johannisplatz aus konnte man ihr Dach sehen, dort drängten sich Tausende.“ Ein nie vergessenes „Kulturverbrechen“ (Topfstedt.) Und was wurde gebaut? Das globige, überlastige neue Gewandhaus; der Universitätsturm von Henselmann, mit sprungschanzenartigem Abschluß - ein Wahrzeichen des realsozialistischen Optimismus; und der langweilige Baukörper der Universität mit einer geschwulstartigen Marxplastik.
„Auch auf Wendekurs?“ - „Wieso?“ - „Achso, immer schon dabeigewesen!
Begrüßungsdialog zwischen zwei Herren auf der 1.Volksbaukonferenz)
4. Nische und Apparat
Das Wort „Volksbaukonferenz“ war umstritten. Der Begriff „Volk“ sei schließlich abgewirtschaftet. Der Denkmalpfleger Wolfgang Hocquel, der sich für diesen Namen eingesetzt hatte, deutete ihn so: „Volk steht vor Bauen“. „Der Mensch als lebendes Wesen ist außer Blick geraten. Erst in den Demonstrationen ist er wieder aufgetaucht.“ Mit diesem Wiederauftauchen des Menschen wollte sich die Konferenz verbünden. Etwa 1.000 Teilnehmer waren in die schlechtbeheizte Halle 5 der AGRA in Leipzig-Markkleeberg gekommen, einem Messegelände für die Landwirtschaft, in dem noch am 7. Oktober die Stasi die Verhafteten unterbrachte. Eine Basisversammlung der Fachleute also. Gut zwei Drittel der Versammelten gehörten offensichtlich zur Baubürokratie, und es hat, wie man hörte, im Vorfeld viel Überzeugungsarbeit gekostet, daß sie erschienen.
Daß es der Initiativgruppe gelang, die Baubürokraten der öffentlichen Kritik zu stellen, machte die Konferenz zu einem kulturellen Ereignis, um so mehr, als die Initiatoren aus den Nischen kamen, in die sie von den Apparaten gedrängt worden sind. Die Nischen heißen Denkmalspflege, Künstlerbund, Universität zum Beispiel. Dort, im Freundeskreis, wurde Protest artikuliert, Kritik formuliert, das Schlimmste verhütet. Prof. Peter Heldt, Ökonom, war Abteilungsleiter für Kultur im ZK und ging mit der Ausweisung von Biermann. Wolfgang Hocquel ist Denkmalpfleger. Bernd Sikora ist von Haus aus Architekt und wechselte 1981 nach der Tagung in Erfurt, nach der die Architekturkritiker zu Konterrevolutionären erklärt wurden, zum Künstlerbund. Johannes Schulze, Architekt im Büro des Leipziger Chefarchitekten, wechselte zur Denkmalpflege.
„Wo sind unsere Architekten?“, fragte eines der Vorbereitungspapiere, um zu antworten: Sie wanderten ab in wie es in der DDR-Sprache heißt - „Kreativbereiche“. Die Mehrheit der Architekten allerdings ging in die Baukombinate, wurden „Produktionserfüllungsgehilfen“. Kein Wunder, daß auf der Konferenz immer wieder nach freien Architekten, nach einer Architektenkammer gerufen wurde. Bernd Sikora erinnerte überdies daran, daß „bis zur Wende Architekturkritik existenzgefährdend“ war. („Es gibt nicht nur Walter Janka. Tausende von Architekten sind aus dem Land getrieben worden!“) Aber Aufarbeitung, Interessenpolitik der Architekten, Anspruch der Denkmalpfleger auf gesetzliche Grundlagen („Wir sind ja nur Pausenclowns der Stadtplanung“, Topfstedt) waren Nebenmotive. Es ging um die Macht, um den Bruch des Monopols der „Plattenmafia“, um das Monster BKL (Bau-Kombinat Leipzig).
„Die Platte“ verschandelt nicht nur die Innenstadt, schafft nicht nur öde Vorstädte auf der grünen Wiese wie Grünau sie repräsentiert eine Logik der Stadtvernichtung, ist in den Augen vieler Teilnehmer nachgerade die Hauptverantwortliche für die Ausreisewelle.
100.000 „Wohneinheiten“ sind seit 1945 gebaut worden, davon 80.000 mit der „Platte“. Da mit der Wohnbauserie 70 (WBS 70) keine Ecken, keine historischen Straßenlinien bebaut werden konnten, war Flächenabriß angesagt. Entmietung und Verfall eilten dem Neubau voraus. Die starre Platte entmischte die Stadt: Gewerbehöfe, Läden, all das, was „Funktionsunterlagerung“ heißt, kamen nicht infrage. Die Infrastruktur wurde oft genug vergessen. Die Plattenkombinate monopolisierten die „Baukapazität“, das heißt die Fachkräfte. Bauhandwerker wurden Monteure oder wanderten in die Industriekombinate ab, wo sie als Baureparateure höhere Löhne erhielten; handwerkliche Ausbildung fand nicht statt, die Bauschule wurde aufgelöst.
Aber nicht nur der Berufsstand Bauhandwerker verschwand, sondern auch die Baumaterialien, die Ziegel beispielsweise. Die Baukombinate monopolisierten die Materialien, gleichzeitig - durch staatliche Materialbeschränkung wurden traditionelle Produktionsstätten geschlossen. Von vierzehn Ziegeleien hat nur noch eine überlebt. Die gesamte Dachziegelproduktion des Bezirkes Leipzig reicht allenfalls aus, um das Dach des Neuen Rathauses zu decken. Ein Detail aus einer Gesamt-Katastrophe, wenn man die überall einbrechenden Dächer sieht. Elementare Bauschutzmaßnehmen, wie die Erneuerung von Regenrinnen, fanden nicht statt. Nässe und die Leipziger Schmutzluft hatten freie Bahn. Die Logik der Vernichtung durch das Plattenmonopol: Der Verfall ist schneller als Wohnungsneubau. „Wir haben die größte Wohnungsnot bei geringster Einwohnerzahl“, summierte Hocquel. Die amtliche Perpektive vollendet die Absurdität: Bis zum Jahre 2000 sollen von 103.000 Wohneinheiten gründerzeitlicher Bausubstanz 53.000 abgerissen werden. Um die 53.000 Wohneinheiten aber zu erhalten, müßte die Baukapazität verdreifacht werden. Aber, woher sollen die Arbeitskräfte kommen? Die Konsequenz unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre, daß am Ende des Stadtneubaus durch die Kombinate ein Rest der Bevölkerung in Zelten leben müßte.
Wut, Beschwörung, Resignation kennzeichneten die Konferenz. Man vergriff sich im Ton: „Gegen das Euthanasieprogramm für unsere Baudenkmäler.“ Sprecher einer Vielfalt von Interessen traten auf. Aber ein offener Interessenstreit fand - typisch für DDR-Diskussionen - nicht statt. „Stärkung der Auftraggeberseite“ wurde gefordert, Macht für die Kommune, Aufbau von Handwerksinnungen, Erhöhung der Mieten, Arbeitskräfte und Ausbildungskapazitäten für Produktionsgenossenschaften, höhere Löhne für Bauhandwerker, für eine Politik des knappen Geldes, für Technologietransfer und westliches Kapital bis hin zur Forderung nach Auflösung der Kombinate und einer „tabula rasa der politischen Machtstruktur“. Der Chefarchitekt Fischer hüllte sich in arrogantes Schweigen, aber sein Unwillen war unübersehbar, als es um die Schlüsselforderung ging: „Abrißstop“ und „Neubaustop in der Innenstadt“.
Der Druck der veröffentlichten Misere war so zwingend, daß der Apparat sich mit der Selbstkritik beeilte. Frieder Hofmann, Architekt des BKL und eigentlicher Stadtplaner durch die Kraft des „Fakts“, der „Platte“ nämlich, bot Änderungen an: Das Baukombinat werde „variabler“, man werde die „Monolithbauweise mit Mauerwerksbestandteilen und endlich mit funktionsfähigen Dächern“ fördern. Außerdem: „Wir sind dabei, den Begriff 'Erzeugnis‘ abzuschaffen.“ Aber gegen den drohenden „Neubaustop“ bot er dann doch die 27.000 Wohnungssuchenden auf.
Doch der Streit um die Stadtsanierung verschleierte eher den Existenzkampf, in dem sich die Kombinate jetzt schon befinden. Der Streit um das knappste Gut, um die Facharbeiter, ist schon im Gange. Die Baukapazität muß verdreifacht werden (Baukapazität in der DDR macht nur sechs Prozent der Gesamtproduktion aus, im internationalen Maßstab sind es 15 Prozent!). Die Baukombinate wollen den Reparatursektor verstärken, neue Bausysteme entwickeln und hoffen, ihre Technik in Joint-Venture-Unternehmen einbringen zu können. Dafür müssen sie sich den Zugriff auf die Arbeitskräfte erhalten. Es geht ihnen um Zeitgewinn, um die Verhinderung eines Baustops, der gleichbedeutend sein könnte mit dem Verlust von Arbeitskräften. Kombinatsarchitekt Hofmann versicherte denn auch nach der Konferenz Peter Heldt: „Ich habe jetzt einiges begriffen. Ich gehe voll mit.“ „Gose sieht aus, als ob sie schon jemand getrunken hätte.
(Hans Reimann, 1929, Über das typische Leipziger Bier, die Gose)
5. Der Minister. Die Sprache. Und der „basisdemokratische Schub“
Minister Baumgärtel von der CDU wollte eigentlich gar nicht kommen. Er wurde vorab schon mit Protesttelegrammen bombardiert. Er kam, wie immer ein Minister aus Berlin kam, wenn der Druck von unten als gefährlich eingeschätzt wurde: mit Geschenken und einer bürokratischen Suada. Einen Konsens mit den Direktoren der Baukombinate hatte er vorher hergestellt. Erhöhung der Baukapazität in Leipzig auf 375 Millionen Mark kündigte er an. 92 Millionen Mark würden von Berlin nach Leipzig zurückgeführt. 8.000 Quadratmeter Kacheln über den Plan hinaus versprach er, unter dem schweigenden Hohn der Zuhörer. Leistungsgerechte Entlohnung bis hin zur „soliden Architekturkritik“ fand sich in seinem Korb. Nur: Bruch mit der bisherigen Struktur war nicht vorgesehen.
Er sprach von „Frischbetongemeinschaften“, von „Monolith und Mischbauweise“, von „bedarfsgerechter Profilierung“. Eine Sprache, in der die Bewohner nicht aus Abrißhäusern vertrieben, sondern nur „weggelenkt“ werden, in der soziale Öde Mangel an „Funktionsunterlagerung“ heißt. Sein Staatsekretär gestand indirekt, worum es dem Minister ging: „Es soll hier nicht so dargestellt werden, daß es um die Rettung des Absatzes bestimmter Baukombinate geht.“ Baumgärtel hatte keinen Erfolg. Die Zuhörer klatschten ihn nieder, lachten, riefen „Zugabe“. Sein Rücktritt wurde gefordert.
Baumgärtel hatte es geahnt und mußte dennoch kommen. Denn die Regierung hat die Rettung von Leipzig zur zentralen Aufgabe erhoben. Eine vierzigköpfige Regierungskommission tagt, mit dem Gewandthauskapellmeister Masur als Vertreter des „Volkes“. Sie hat nach der „Volksbaukonferenz“ noch einmal das Angebot erhöht, mehr Baukapazität, Import von Baumaterialien und „Technikaufstockung“ versprochen. Allein, von der Kommission erhoffte sich die Konferenz nicht viel. Die Veranstalter setzten auf den „basisdemokratischen Schub“ (Heldt) der Konferenz. Die Autonomie der Kommunalpolitik soll freigesetzt werden, „bedeutende rechtliche Veränderungen“ sollen von unten erzwungen werden. Für die westlichen Zuschauer unerklärlich: Die Veranstalter verzichteten auf eine Resolution. Auch über eine Forderung nach „Abrißstop“, von der Kreuzberger Baustadträtin Franziska Eichstädt als Beschluß vorgeschlagen, wurde nicht abgestimmt, wiewohl sie den Beifall für sich hatte. Für die angereisten Westler schien Resignation und Klage zu überwiegen. Aber immer überraschend: in der DDR lösen Worte immer noch mehr aus als Resolutionen und ultimative Forderungen. Zehn Tage nach der Konferenz ist der Abrißstop und der Neubaustop in der Innenstadt beschlossen. Über den Weiterbau der Nikolaistraße 31 verhandelt Wolfgang Hocquel, der sich in der Konferenz eher als Außenseiter darstellte, mit dem Plattenkombinat. Mehr noch: Schon zwei Tage nach der Konferenz beschloß eine Einwohnerversammlung von Connewitz, eine der „inneren Vorstädte“, den Weiterbau einer WBS70 -Vorstadt zu unterbinden. Ein Bürgerkomitee wird das Baugeschehen an sich ziehen, solange es noch keine wirksame und demokratisch gewählte kommunale Verantwortung gibt. Und: ein erstes Projekt der behutsamen Stadterneuerung hat schon begonnen. Das Waldstraßenviertel, ein gutbürgerliches Viertel im Westen von Leipzig, ein Viertel mit einer jüdischen und liberalen Tradition. Es war im Juli 1989 für „Ersatzneubau“, für die Opferung ganzer Straßenfluchten der WBS70 vorgesehen.
„Leipzig galt als einer der Hauptsitze für Liberalismus und Demokratie
(August Bebel, 1910)
6. 70 Quadratkilometer Wüste, der Zirkel des Unheils und die Hauptstadt
Ist Leipzig also zu retten? Diese Frage weitet den Kreis des Stadtelends nur noch konzentrisch aus. Die Volksbaukonferenz war eine Wortmeldung von Leipzig selbst. Wer auf den Verfall der Bausubstanz blickte, wurde vom Kombinatsdirektor für Tiefbau belehrt, daß es unter der Erde doppelt so schlimm aussieht. Die verottenden Rohre verseuchen das Grundwasser. Vom Grundwasser zum Hausbrand, vom Hausbrand zur Verschleuderung der Energie, von der Energie zur Verseuchung durch Kraftwerke wie Espenhain: schon ist man bei der Änderung der gesamten Energiepolitik, um Leipzig zu retten. Was ist Leipzig: die Stadt oder die Kulturlandschaft? „Leipzig wird von drei Seiten abgegraben“ (Heldt); die Stadt steht buchstäblich vor dem Abgrund - durch den Tagebau. Der Braunkohletagebau hat den Auwaldstreifen, der sich durch die ganze Stadt, von Markkleeberg ins Rosenthal zog, zerschnitten. Die Liste der verschwundenen Orte aus der Umgebung von Leipzig: Kleinzössen, Hain, Treppendorf, Spahnsdorf, Trachenau, Elstertrebnitz, Zehmen, Leipen, Stöntzsch, Cröbern, Krendnitz, Zwenkau, Berndorf, Prödel, Markkleeberg-Ost, Piegel, Vorwerk, Peres, Cospuden, Eythra Orte, Geschichte, Kultur (Namen und Daten sind dem wunderbaren, allerdings verfrühten Buch Leipziger Landschaften von Guth, Sikora und Vogel, Otto Meisners Verlag, Berlin 1987, zu verdanken). 70 Quadratkilometer Wüste um Leipzig, Absinken von Grundwasser, Verlust der Erholungsgebiete, Verlust der Örtlichkeit. Dort, wo die Leipziger ihre Kindheit verbracht haben, blicken sie in 50 Meter tiefe Gruben.
Zurück zur Stadt: Was wird aus der Leipziger Messe, da sich die Ost-West-Situation verändert hat, fragte einer. „Unsere traditionell geschützten Märkte brechen zusammen. Massenarbeitslosigkeit wird kommen.“ Die Buchindustrie, einst Stolz der Leipziger, habe den Anschluß verpaßt, erklärte ein Vertreter vom Kombinat Polygraph. Die Zukunft macht Angst und die Gegenwart nicht minder. Wenn in Weimar Smogalarm ausgelöst wird, reichen dieselben Werte für Leipzig noch lange nicht aus. „Sind wir in Leipzig etwa resistenter?“ Der Direktor der Universitätsbibliothek, Rüdiger („Ich bin der Direktor der größten Bibliotheksruine Europas“) beklagt sich über tägliche Schwelbrände, durchgehende Nässe, Verfall der wertvollen Bücher.
Vor allem aber redet er über Taubenzecken. Taubenzecken bedrohen die meisten Leipziger, weil in den Ruinen und verfallenen Dächern sich unausrottbar die Tauben vermehrt haben. Die Krankheit, durch Taubenzecken verbreitet, gilt inzwischen als Leipziger Krankheit. So kreist denn der Reigen der Klage zwischen der Hoffnung auf einen starken Mann („So jemand wie Berghofer in Dresden müßten wir haben“) und der Hoffnung auf westliches Kapital, daß aus sich selbst heraus einen Weg zum Besseren finden werde.
Aber, wie nahe ist die Analyse der Misere bei der Ratlosigkeit der Leipziger „Montagsläufer“, die nur noch die Wiedervereinigung fordern. Wen verwundert's, daß die Leipziger sich gegenseitig als Ausreisekandidaten betrachten. Außerdem: wo anfangen, mit welcher Kraft? Die Kritische Intelligenz mißtraut den anderen und sich selbst. Aggression, Resignation ist die Grundstimmung dieser Stadt. Bernd Sikora: „Hier ist alles degeneriert. Zu viele sind in den Westen gegangen.“ 1939 hatte die Stadt 713.000 Einwohner, 1945 waren es 600.000 und 1989 ist die Stadt auf 535.000 Einwohner gesunken. Tatsächlich fragte sich die Konferenz, ab welcher Bevölkerungszahl sich die Stadt aufgibt, ab 400.000, ab 300.000?
Mitten in der Debatte um die Stadtsanierung meldet sich ein Einzelkämpfer zu Wort, ein Herr Fleischhauer, verantwortlich für Sportanlagenbau. Zum Unwillen der Versammelten bringt er die Kandidatur von Leipzig für die Olympiade 2004 auf die Tagesordnung, die noch unter Honecker angemeldet wurde. Aber plötzlich hat er alle gewonnen: „West-Berlin hat die Dollar nicht so nötig wie Leipzig, Ost-Berlin haben wir lange genug unterstützt. Olympiade Berlin heißt doch die Neuauflage des 'Berlin-Programms‘, das schließlich den Leipzigern die Stadt kaputt gemacht hat.“
Das ist der Ton: „Leipzig gehört noch lange nicht den Leipzigern.“ Die Zahlen sprechen dafür: Nur 25 Prozent der erarbeiteten Werte blieben in der Stadt. Leipzig war eine freie Stadt, nie Residenzstadt. Unter dem Realsozialismus ist sie der Residenz von Ost-Berlin unterworfen worden, bis zur Zerstörung ihrer Identität. Kränkung des Stadtstolzes brachte die Leute auf die Straße. Bernd Sikora schreibt in der 'Bauwelt‘: „Nachdenken über Leipzig von heute ist auch Nachdenken über vierzig Jahre DDR.“ Die vierzig Jahre DDR haben sich jedenfalls für Leipzig nicht gelohnt.
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