„Lieber Kohl als rote Rüben“

Stimmungsbild aus Karl-Marx-Stadt / Großdemonstration mit der Sachsenfahne gegen Stasi und SED / Die SPD ist im heftigen Aufwind, das Neue Forum gespalten / Gestreikt wird hier nicht, aber die Stimmung in den Betrieben ist pessimistisch / Hoffen auf Wiedervereinigung  ■  Aus Karl-Marx-Stadt M.Rediske

Es geht nicht mehr um Schwarz-Rot-Gold mit oder ohne Hammer und Zirkel. Die Frage ist nur noch: Ist sie nun weiß-grün oder ist sie grün-weiß, die Fahne der Sachsen? Der Augenschein auf der Demonstration der 150.000 am letzten Montag hat bewiesen, daß man sich noch nicht hat einigen können, ob das Grün nun oben oder unten anzunähen ist.

Doch sonst gibt es hier wenig Unstimmigkeit. „Nieder mit der SED“ - das singen sie alle und skandieren „Gysi geh- mit deiner SED“, während sie vom Karl-Marx-Denkmal die Karl-Marx -Allee einmal im Rund durch die Karl-Marx-Innenstadt ziehen, die wohl bald auch nicht mehr so heißen wird. Gegen eine Rückbenennung in Chemnitz, für die eine Unterschriftensammlung mal schnell 21.000 Bürger mobilisiert hat, gibt es nur noch wenig Widerstand. Das Argument, es koste zuviel Geld, all die vielen Briefbögen und Stadtpläne neu zu drucken, zieht kaum. Schließlich kann man das gleich in einem Abwasch mit der Neugründung des Landes Sachsen erledigen, und die kommt sowieso, auch die SED-PDS ist nicht mehr dagegen.

Einig ist sich das Volk auf der Straße - und so viele wie an diesem Montag waren es noch nie - sonst vor allem gegen SED und Stasi. So sympathisch (und bescheiden) Gregor Gysi persönlich auch auftritt - er wird das Image der Schnüffler und Kommandopartei nicht los. Wie auch: Der Apparat funktioniert schließlich weiter. „Rote raus - Rote raus“ die Rufe hallen wider von dem achtstöckigen Neubau, der hinter der Marx-Büste aufragt. Früher hieß er „Haus der Partei- und Staatsorgane“, dann wurden die Demoforderungen, die Opposition hineinzulassen, immer deutlicher, und schließlich wurde er in „Haus der Parteien, Organisationen und Bewegungen“ umbenannt. Von den acht Etagen räumte die Staatspartei genau eine - die oberste.

Aus den Betrieben ist die SED-PDS zwar raus, und im Stammbetrieb des Textilmaschinenkombinats (Textima) gehört das Schwarze Brett der aufgelösten Betriebskampfgruppen jetzt dem Neuen Forum. Doch das Mißtrauen sitzt einfach zu tief. Die Enthüllungen über das Ausmaß der Stasiaktivitäten haben doch die meisten überrascht. In Karl-Marx-Stadt hatten sie einen ganzen Vorortstadtteil, den Kassberg, okkupiert, und Internierungslager waren auch schon vorbereitet, in den Muschelkalkbergen bei Leuchtenberg. „Und selbst heute kommen noch Briefe weg“, erzählt Irene Bolliger, die bei Textima in der Initiativgruppe für einen „provisorischen Betriebsrat“ arbeitet. Ob das vielleicht doch an der schlecht funktionierenden Post liegt, spielt dann keine große Rolle mehr. „Wir stellen ein: keine Stasi“ - heißt es vor manchen Werkstoren.

In der Bezirkshauptstadt und Industriemetropole gibt man sich aber damit zufrieden, der SED auf den Demonstrationen die rote Karte zu zeigen - von Streik redet hier niemand, auch nicht im Spinnereimaschinenwerk von Textima. Dort geht es, wie überall, wirtschaftlich bergab, und niemand hat eine Idee, wie der Betrieb auf absehbare Zeit wieder schwarze Zahlen schreiben kann. Zu teure Produktion, Probleme mit den zuliefernden Gießereien und Elektrobetrieben, ein bürokratischer Wasserkopf - wen immer man fragt, er oder sie nennt die gleichen Probleme. Und die sind nicht im Betrieb selbst zu lösen. Man ist also - Arbeiter wie Betriebsleitung - im „Schwebezustand“.

Stimmung im Betrieb

Was auf sie mit dem ersehnten „einig Deutschland“ zukommt, wissen noch die wenigsten. Die Textima-Arbeiter, in der Kantine bei Rindfleisch und Rotkohl befragt, sind sich sicher: In der Verwaltung, ja - da könnten sie entlassen, aber „bei uns in der Absägerei doch nicht“, denn Facharbeiter fehlen. Höchstens, wenn... Ja wenn der ganze Betrieb als unrentabel geschlossen werden muß. Deshalb ist auch Herr Braun, der Meister, gegen eine zu schnelle Wiedervereinigung, und die Runde am Tisch nickt: „Dann würden doch die Schwächeren das Nachsehen haben. Das muß alles langsam gehen.“ Aber vielleicht würden jetzt auch diejenigen nicken, die sich gestern abend noch auf der Demonstration „lieber Kohl als rote Rüben“ gewünscht haben.

Wenige scheinen sich Gedanken um das zu machen, was nach dem 6.Mai kommt. Es reicht, wenn der SPD-Redner auf der Kundgebung verkündet: „Unser erstes Ziel ist die Wiedervereinigung“, um die Sympathien auf seine Partei zu lenken. Eine nicht repräsentative Umfrage unter Fahnenträgern und Mitmarschierenden ergibt, daß etwa die Hälfte mit der SPD sympathisiert, eine andere Partei oder Gruppe wird gar nicht genannt. Die andere Hälfte weiß nur, „wen wir nicht wählen - die SED-PDS“.

Spaltung der Opposition, das Wahlbündnis von der SPD aufgekündigt? In Karl-Marx-Stadt sieht man nichts davon. Im achten Stock des „Hauses der Parteien“ sitzen sie einträchtig und freuen sich erst einmal, daß sie seit einigen Tagen Büroräume haben und Telefone.

Von den Grünen oder der Vereinigten Linken ist dort nichts zu sehen. Die Grüne Partei hat sich einen Schlüssel geholt, und seitdem sind die Leute hier nicht wieder aufgetaucht. Und der Vereinigten Linken ergeht es hier ohnehin schlecht: Auf den Demonstrationen gehen ihre Reden regelmäßig in Pfiffen unter, im Dezember hat man sie einmal fast gelyncht, als sie mit einem Plakat gegen Wiedervereinigung und Neofaschismus ankamen.

Denn in die rechte Ecke will hier niemand gedrängt werden, wenn er ein „einig Vaterland“ propagiert. Daß rechts neben der SPD noch Platz im Parteienspektrum wäre, ist hier auch noch nicht aufgefallen. Am Montag trat zwar eine CSU auf der Kundgebung auf, doch Fuß gefaßt hat sie noch nicht.

Und andere Konkurrenten für die SPD? Der Demokratische Aufbruch ist klein und arbeitet eng mit der SPD zusammen. Beim Neuen Forum herrscht hektische Aktivität. Die Forumsleute sind noch als eine Art moralische Instanz anerkannt, und es stimmt, was Wolfram Weiß, 69jähriger Rentner und Mitglied im Sprecherrat, mit einigem Stolz erzählt: „Auf unserem Buckel haben sich alle Parteien gegründet.“ Aber das zählt im Wahlkampf weniger. Die Leute wünschen sich feste Strukturen und Programme, und die kann das Neue Forum nicht bieten. Dafür aber um so mehr internen Knatsch. Da ruft einer der Sprecher Anfang Dezember einen Generalstreik aus (weil 300 Menschen in der Johanniskirche darüber abgestimmt haben), ein anderer sagt eigenmächtig die Montagsdemonstration ab.

Auch die Deutsche Forumpartei, die sich daraufhin abgespalten hat und am 27.Januar ihren Gründungskongreß veranstalten will, wird wohl kaum zur ernsthaften Konkurrenz für die Sozialdemokraten. Dazu sind ihre Positionen der SPD zu ähnlich: „Soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Vereinigung der beiden deutschen Staaten“. Auf die Frage, warum es denn dafür noch eine eigene Forumpartei braucht, antwortet eine Aktivistin ganz offen: „Weil wir uns fürs Forum monatelang die Hacken abgelaufen haben. Da hängt man doch dran.“