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NS-Mordprozeß gegen lettischen Greis

In Münster steht der 86jährige Boreslavs Maikovskis wegen Mordes und Beihilfe zum Mord 48 Jahre nach der Tat vor Gericht / Schon 1965 in der Sowjetunion in Abwesenheit zum Tode verurteilt / 1987 aus den USA in die BRD gekommen / Prozeß wegen Herzattacken unterbrochen  ■  Von Walter Jakobs

Münster (taz) - Vor dem Landgericht Münster begann am Donnerstag der Prozeß gegen den in Haft sitzenden 86jährigen Rentner Boreslavs Maikovskis, der angeklagt ist, am 3. Januar 1942 an der Ermordung von 170 Menschen aus dem lettischen Dorf Audrini beteiligt gewesen zu sein. Darüber hinaus wirft ihm die Anklage, vertreten durch den Leiter der Dortmunder Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen, Oberstaatsanwalt Schacht, vor, am 2. Mai 1942 angeordnet zu haben, im Rahmen eines Einsatzes gegen Partisanen in Lettland den Juden Falk Bosch „zur Abschreckung“ zu erhängen. Die 170 Menschen, darunter Frauen und Kinder, sind nach Schachts Darstellung in einem Wald in der Nähe von Audrina erschossen worden. Während des etwa 90 Minuten andauernden Massakers mußten Frauen und Kinder der Ermordung ihrer Leidensgenossen zusehen, bevor sie selbst starben.

Bei der Terroraktion soll Maikovskis, der zur Zeit der deutschen Besatzung als Polizeihauptmann „Vorsteher“ des 2. Polizeireviers in der lettischen Kreisstadt Rositten war, „wissentlich Beihilfe geleistet haben“. Wegen dieser und weiterer Verbrechen wurde Maikovskis schon 1965 in Riga von einem sowjetischen Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Zu den eigentlichen Anklagepunkten äußerte sich der 86jährige Angeklagte am ersten Prozeßtag nicht. Wegen Herzbeschwerden und Konzentrationsschwierigkeiten des Angeklagten wurde der Prozeß kurz nach der Mittagspause unterbrochen.

Maikovskis hatte sich 1987, kurz vor seiner bevorstehenden Auslieferung an die Sowjetunion, aus den USA in die Bundesrepublik abgesetzt und war zunächst bei lettischen Freunden im westfälischen Münster untergekommen. Zur Flucht aus Amerika entschloß sich Maikovskis, nachdem die US -Behörden 1984 endgültig seine Abschiebung besiegelt hatten. Schon seit 1976 lief auf Ersuchen der Sowjetunion ein Auslieferungsverfahren. Nach 1984, so sagte Maikovskis, der einen Dolmetscher zur Seite hat, „bemühten sich die amerikanischen Behörden, ein Aufnahmeland zu finden. Das einzige Land, das bereit war, war die Sowjetunion, und dort drohte mir die Todesstrafe. Deshalb beschloß ich zu fliehen“.

Zur Hilfe kam ihm dabei die Bundesrepublik. Das deutsche Generalkonsulat in New York stellte dem Flüchtling auf seinen lettischen Paß ein auf drei Monate befristetes Touristenvisum aus. Gegen Maikovskis habe „nichts vorgelegen“, und deshalb habe er das Visum erhalten, erklärte das Bonner Außenministerium später. Diese Darstellung aus Bonn wird von Kennern des Falls Maikovskis als „völlig unglaubwürdig“ bezeichnet. Den deutschen Behörden sei klar gewesen, daß Maikovskis sich der Auslieferung habe entziehen wollen.

In Münster stellte Maikovskis am 20. Oktober 1987 einen Asylantrag. Er habe unter deutscher Verantwortung gehandelt und sei von der Sowjetunion zu Unrecht verurteilt worden, hieß es in dem Antrag. Seine Flucht in die Bundesrepublik wurde der Öffentlichkeit erst ein Jahr später durch einen Bericht der 'New York Times‘ bekannt. Knapp zwei Wochen später, am 19.Oktober 1988, wurde Maikovskis in Münster festgenommen.

Seinen Weg zur Hilfspolizei fand der Angeklagte nach eigener Darstellung über seine langjährige Mitgliedschaft in der lettischen Organisation „Aizsargi“, die bis zur Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion im Jahr 1940 eine Art Reservearmee war. Dort diente der Angeklagte als Hauptmann. Bis zum Einmarsch der Deutschen, die die Letten, so Maikovskis, „als Befreier und Erretter ansahen“, hielt er sich versteckt. Danach schloß er sich dem lettischen „Selbstschutz“ an, der Ende 1941 Anfang 1942 in die Hilfspolizei überging. Diese Polizei war den deutschen Behörden unterstellt. Als die deutsche Armee 1944 den Rückzug begann, floh auch Maikovskis gen Westen. Später landete er in Hamburg, wo er bis zu seiner Übersiedelung in die USA im Jahr 1951 völlig unbehelligt lebte.

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