Moskau schickt Reservisten in den aserbaidschanischen Bürgerkrieg

■ Sowjetische Soldaten im Kaukasus haben Schießbefehl / Generalstreik in Baku gegen Truppenentsendung / Barrikaden gegen Vorrücken der Armee / Grenze zum Iran und zur Türkei geschlossen, um Waffenschmuggel zu unterbinden / Gorbatschow verteidigt Maßnahmen

Moskau (afp) - Die sowjetischen Truppen hatten die Situation im Kaukasus bis Donnerstag nicht unter Kontrolle, obwohl sie seit Mittwoch abend Schießbefehl haben und Verstärkung durch Reservisten aus verschiedenen Republiken erhielten. In der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku wurde am Donnerstag aus Protest gegen den Einsatz der sowjetischen Truppen ein Generalstreik ausgerufen. In der Nacht zum Donnerstag kam es erneut zu Plünderungen und Gewaltakten gegen Armenier.

Die Sprecherin der aserischen Volksfront, Leila Jonussowa, bestätigte am Telefon, daß Barrikaden die Zufahrtsstraßen nach Baku blockierten, und betonte, im Zentrum sei „alles ruhig“. In den meisten Fabriken der Stadt sei der Streikaufruf befolgt worden. Der Generalstreik sei aus Protest gegen die Entsendung von Truppen und gegen Pläne ausgerufen worden, auch über Baku den Ausnahmezustand zu verhängen. Nach Angaben von Jonussowa nahmen die Nationalisten und die Behörden am Mittwoch Verhandlungen auf, nachdem Bewohner von Baku die Straßen zur Innenstadt mit Autos blockiert hatten. Am Mittwoch war es in Baku und der armenischen Hauptstadt Eriwan zu Demonstrationen gegen den Armee-Einsatz gekommen.

In einem Kommunique des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des Geheimdienstes KGB war am Mittwoch abend mitgeteilt worden, daß die in den Kaukasus entsandten Truppen angesichts der schwierigen Lage den Befehl erhielten, ihre Waffen „bei strikter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften“ einzusetzen. In mehreren Republiken der UdSSR wurden Reservisten zur Verstärkung der Sicherheitskräfte im Kaukasus einberufen. Sie sollen als Wachen an strategisch wichtigen Punkten eingesetzt werden.

Als weitere Sicherheitsmaßnahme schlossen die sowjetische Armee und Grenztruppen des KGBs in Aserbaidschan und Armenien die Grenzen zum Iran und zur Türkei. Nach Ansicht von politischen Beobachtern soll damit der Waffenschmuggel über die Grenzen unterbunden werden. Sowohl Aseris als auch Armenier sollen im Ausland Waffen gekauft haben, insbesondere von türkischen Kurden.

Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow äußerte sich am Donnerstag erstmals zu der Krise im Kaukasus. Die Zusammenstöße zwischen Aseris und Armeniern seien „beunruhigend“, interethnische Probleme könnten Fortsetzung auf Seite 2

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jedoch nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der sowjetischen Föderation gelöst werden, betonte der Kremlchef. Wie die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ berichtete, sprach Gorbatschow vor 1.000 Vertretern von „Arbeitern, Bauern und Intellektuellen“, die sich zu

einer zweitägigen Konferenz über die Wirtschaftsprobleme der UdSSR im Kreml aufhielten. Der Staat sei gezwungen gewesen, mit Gewalt einzuschreiten, um „Extremismus und Vandalismus“ zu unterbinden und Kriminelle zu bekämpfen, so der Kremlchef weiter.

Zu der Lage in Aserbaidschan äußerten sich auch führende Politker der beiden Nachbarländer, der Türkei und des Iran. Der Chomeini

Nachfolger Ali Chamenei kritisierte die Entsendung sowjetischer Truppen, lobte aber im gleichen Atemzug die Politik Gorbatschows, da es nunmehr eine größere Religionsfreiheit gebe. Während Hardliner in der Teheraner Führung vor „jeder Gewaltanwendung zur Auslöschung der lodernden Flamme des Islam im Kaukasus“ warnten, befürworteten andere eine friedliche Lösung des Problems. Noch vor Monatsende wird

eine sowjetische Delegation in der iranischen Hauptstadt erwartet, um über Reiseerleichterungen zwischen beiden Teilen Aserbaidschans zu sprechen.

Der in den USA weilende türkische Staatschef Turgut Özal erklärte vor dem Internationalen Club in Washington, sein Land werde sich in den Konflikt zwischen Aserbaidschanern und Armeniern nicht einmischen.