Moskaus Truppen rücken in Baku ein

■ Sowjetische Behörden stellten Ultimatum an aserische Nationalisten / Kämpfe an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan

Moskau/Berlin (afp/ap/dpa/taz) In Baku haben nach Angaben aserischer Nationalisten Truppen des sowjetischen Militärs am Freitag abend begonnen, mit Lastwagen zum Sitz des Zentralkomitees der aserbaidschanischen KP vorzurücken. Außerdem seien Hubschrauber, Feuerwehrfahrzeuge und Krankenwagen auf dem Weg ins Zentrum der aserbaidschanischen Hauptstadt. Vor dem Gebäude sollen mehrere tausend Menschen demonstrieren, um den Rücktritt des örtlichen KP-Chefs zu erzwingen. Die sowjetischen Behörden hatten den aserischen Nationalisten ein Ultimatum gestellt, ihre Blockade aufzuheben und die sowjetischen Truppen in die Innenstadt vorrücken zu lassen, hieß es aus gleicher Quelle. Die Bevölkerung von Baku versucht seit drei Tagen, die Truppen aufzuhalten. Auch soll das Lokalfernsehn in Baku plötzlich seine Sendungen unterbrochen haben.

Außerdem wurde bekannt, daß der sowjetische Schachweltmeister Garry Kasparow, der eine armenische Mutter und einen jüdischen Vater hat, in der Nacht zum Donnerstag mit 48 Verwandten und Freunden aus Baku nach Moskau geflohen ist.

Die sowjetische Führung appellierte am Freitag an die Aserbaidschaner und Armenier, den Bürgerkrieg zu beenden und eine nationale Katastrophe abzuwenden. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow setzte einen innenpolitischen Akzent, als er auf einer Konferenz über die wirtschaftlichen Aspekte der Perestroika die Gegner seiner Reformpolitik als Drahtzieher hinter den Kämpfen bezeichnete. Er warf „Extremisten, verantwortungslos handelnden Abenteurern und Vertretern der Schattenwirtschaft“ vor, Konflikte zwischen Volksgruppen zu schüren, um sein Reformprogramm, daß sie nicht frontal angehen könnten, aus den Angeln zu heben.

„Falls die heutige Tragödie nicht aufgehalten wird, kann sie sich morgen in eine nationale Katastrophe verwandeln“, hieß es warnend auch in einem Kommentar der Kommunistischen Partei und der Staatsführung, der in der Parteizeitung 'Prawda‘ veröffentlicht wurde:

„Koste es, was es wolle, diese Welle der Gewalt muß beendet werden.“ Aserbaidschaner und Armenier wurden aufgefordert, die „extremistischen Kräfte“ zu überwältigen, die die „unverantwortlichen kriminellen Handlungen“ ausführten. Auch das „Heiligste vom Heiligen“, die sowjetische Grenze, sei verletzt worden. Doch die Appelle und Moskauer Maßnahmen mittlerweile wurden 24.000 zusätzliche Soldaten in die Region entsandt - ließen bisher den erhofften Erfolg vermissen.

Am Donnerstag kam es erstmals seit Ausbrechen der Bürgerkriegskämpfe auch zu Gefechten entlang der aserbaidschanisch-armenischen Grenze. Armenischen Angaben zufolge wurde das Dorf Jeskaran von Aseris beschossen, dabei seien drei Personen getötet und vier verletzt worden. „An der gesamten Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien wird heute geschossen“, berichtete ein Mitarbeiter der armenischen Nachrichtenagentur 'Armenpress‘. Die sowjetische Armee schickte Verstärkung ins Grenzgebiet. Von aserbaidschanischer Seite lagen dazu zunächst keine Informationen vor.

Auch in Armenien stößt die Haltung der sowjetischen Führung auf Kritik. „Das armenische Volk hat wegen der zögernden Haltung der Moskauer Zentrale beschlossen, das Schicksal der Republik selbst in die Hand zu nehmen“, hieß es in einer 'Armenpress'-Erklärung. Unter Führung des armenischen KP -Chefs Suren Arutjunjan und des stellvertretenden Vorsitzenden des Fortsetzung auf Seite 2

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armenischen Obersten Sowjets, Wladimir Mowsesian, würden in der ganzen Republik Selbstverteidigungskomitees für eine Bürgerwehr gegründet. West-Journalisten aus Eriwan zufolge gehen derlei Aktivitäten auf die armenische Nationalbewegung zurück und nicht auf Regierung und Partei. Die Nationalisten hatten am Donnerstag in Eriwan mitgeteilt, daß sich bereits mehr als 20.000 Freiwillige für die „Armenische Nationalarmee“ gemeldet hätten, die derzeit von der Nationalbewegung aufgebaut wird. Sobald am Donnerstag abend die Nachricht über erste Todesopfer auf armenischer Seite zu der aserischen Enklave Nachitschewan eintraf, brachen junge Freiwillige in Privatautos in Richtung Grenze auf. Bis Freitag morgen fanden sich mehrere 100 bewaffnete Armenier in der Umge

bung von Jeskaran ein. Die Ausrüstung reicht vom Messer oder Jagdgewehr bis zum Panzer. Auch an der Grenze zwischen Aserbaidschan und Iran kam es zu erneuten Auseinandersetzungen. Nach Angaben von 'Aserinform‘ wurden Grenzzäune auf einer Länge von 50 Kilometern niedergerissen. Die iranische Nachrichtenagentur 'Irna‘ meldete, Tausende aserbaidschanischer Moslems seien am Freitag über den Grenzübergang Bilehsawar gekommen, um an den Freitagsgebeten teilzunehmen. Sie seien herzlich begrüßt worden und hätten als Geschenke Koranschriften sowie Bilder des verstorbenen Revolutionsführers Chomeini und seines Nachfolgers Chamenei erhalten. Anschließend seien sie in den sowjetischen Teil Aserbaidschans zurückgekehrt. Irans Regierung bemüht sich, die Kämpfe jenseits der Grenze als religiösen Konflikt hinzustellen, um Minderheitenprobleme im eigenen Land zu vermeiden.

b.s.