Von Ankara nach Mersin

■ Sechs Erwachsene, ein Kind, sechs Koffer: Selbst Cengiz, Taxifahrer in Ankara und mit allen Lasten vertraut, sagt, der Wagen sei überladen

Co. Hel VON ANKARA NACH MERSIN

Sechs Erwachsene, ein Kind, sechs Koffer: Selbst Cengiz, Taxifahrer in Ankara und mit allen Lasten vertraut, sagt,

der Wagen sei überladen.

So fährt er durch die Vororte ins Hügelland, hofft, wenigstens diesmal gehe die trafik kontrolu an ihm vorüber. An einer Raststätte bittet mich Nuriye zum Tee. Spricht mit einem Mann, der mit zwei anderen Tee trinkt. Ist noch ein wenig mehr Dame als sonst. So hat sie einfach zwei Koffer auf einen Bus, der auch nach Mersin fährt, umladen lassen; ohne um die Federung zu fürchten, können wir weiterfahren. Nuriye, avla, ältere Schwester, hat die Führung. Das Kind wird mit Bananen gefüttert und abwechselnd jedem auf den Schoß gesetzt. Es hält die ganze Nacht die Augen auf, schläft erst mit dem Hellwerden ein.

Einmal ist die Gegend kahl wie Abraumhalden bei Alsdorf. Irgendwo Häuser, zu groß zum Wohnen, vielleicht aufgelassene Fabriken. Siedlungen, in Rohbauweise hochgezogen, in den Bachtälern. Schafherden, schwarze Ziegen, Kühe, die sich im Geröll ihr Futter suchen, ein mühseliges Unterfangen im Abgasgebrüll der Fernlaster. Im Morgengrauen die großen Salzseen. Dann lichte Zedernwälder. Dann der Tauros im Schnee, wuchtig, abweisend, gleichgültig allen Kreuzfahrerheeren, Karawanen, T.I.R.-Lastzügen.

Raststätten in den Abständen der Karawanentagesreisen. Ein rohes Haus mit Veranda, mitten in den Felsen gebaut, seitab ein Garten mit Tomaten und Wein. In der Auslage hängen geschlachtete Hammel. Auf der Veranda ein Rost, ein paar Sitzgelegenheiten. Nuriye bestellt. Der Junge, geschoren, hat schon Schaufel und Blech zum Anfachen zur Hand. Der Mann hackt Rippenstücke aus einem Hammel. Dazu gibt es Wasser aus der Kanne. Die Frauen frieren, versammeln sich drinnen um den Ofen, aus einer Tonne gemacht. Der Wirt legt eine 'Milliyet'-Seite auf den Tisch, auf Bleche das Fleisch, Tomaten, Zwiebeln, Brot, kurz angeröstet. Nuriye hat ölige Augen beim Essen. Heißes Fleisch, mit klammen Fingern wird zugelangt, Nuriye bestellt nach, der Junge bietet Tee an. Fertig, können wir uns draußen mit flüssiger Seife die Hände waschen.

In der Guten Stube

Gül Apartumani, das Treppenhaus ist unverputzt. In der Wohnung liegen die Teppiche auf den Fliesen. Die gute Stube mit sorgfältig angeordnetem Messinggeschirr in einem schweren Schrank, osmanisch-gründerzeitlich-rustikal. Die Handelswege des Kitsches sind unerforschlich: Pfeiferauchende Bayernbauern und Senser in Holz, Oberammergauer Schule. Ist es das Bilderverbot über Jahrhunderte, ist es Kleinbürgerprotz, daß hier nichts, so gediegen und teuer es aussehen soll, dem Auge wohl tut? An den Wänden liegen Rohre und Leitungen über Putz. Ein Gemälde vom jüngsten Bruder, über Eck gehängt wie ein Herrgottswinkel, darunter die neue Kompaktanlage. Auf dem Eßtisch, an die Wand gerückt, stehen künstliche Blumen und Geisha-Puppen. Die Sessel, damastbezogen, mit gedrechselten Knäufen, kostbar aussehend bilden einen Halbkreis, in dem man sich bald um die geöffneten Koffer versammelt.

Ayla sitzt, das Kind auf den ausgestreckten Beinen wiegend, auf dem Boden. Die Großmutter hat sich hingelegt, zieht das bestickte Kopftuch halb übers Gesicht, läßt sich dann von einem der Mädchen die Apfelsinenkiste bringen, aus der Familiengold neu verteilt wird. Dabei läuft der Fernseher. Im Bad schleudert die neue Waschmaschine. Sie haben zwei WCs, eins auf mittelmeerische, eins auf englische Art. Abends setzt mir die Großmutter Auberginen und Buttermilch vor. Eines der Mädchen ist auf der sezlong eingeschlafen, man läßt sie da liegen, deckt sie zu. Zwischendurch Familienkrach und Kinderfüttern; das Kind auf einem Kissen am Boden.

Serife, im roten Kleid, die Beine vornehm angezogen und zur Seite geschlagen, sitzt, den Blick wie eine Tennisschiedsrichterin über das Gespräch hin und her, auf der löwenknäufigen Ottomane, eine Hand um die Fessel, die andere am Kinn. Wir haben uns so manches durch die Augen gesagt. Wenn sie nicht aufmerksam ist, hat sie den Blick ihrer Mutter, gemischt aus trotziger Eleganz und nervöser Unterwürfigkeit. Ihr Vater, den Weltmann nach Katalog spielend, versucht den Blick seines Vaters, des Lehrers von Rabat Köyü, nachzuahmen, seine schönen grünen Augen stechen nicht recht. Zwischen ihm und seiner Frau gehen Blicke, alles Lügen strafend, gestörte Frequenz einer arrangierten Ehe.

Jetzt werden Zitronen geholt, gepreßt, Tante und Onkel pressen mit, in der guten Stube, wo noch ein offener Koffer steht. Serifes Mutter weint, die Großmutter, Tränen in den Augen, Allah zwischen den Zähnen, murrt, der Onkel gibt seinen Senf dazu. Nuriye will Serife mit ihrem Kenan verheiratet haben. Cengiz, strunzbesoffen kam er heute morgen wieder, hat eine Geliebte in der Stadt. Auch er hat den Wagen doch noch, überladen, in den Arsch gefahren. Ayla wird Zustände kriegen! Kurz vorher hat sie sich noch mal schwängern lassen: Eine mit zwei Kindern läßt einer nicht so leicht sitzen. Nuriye wird die Reparatur bezahlen, schließlich hat Cengiz sich krank gemeldet, sie herumzukutschieren. Sie schimpft mit ihm, der ihre Schwester entehrt hat, zur Strafe muß er sie bis zur Rückreise fahren. Aber Nuriye zahlt die Reparatur. Serife hat es in den Augen ihrer Eltern gesehen: Mit Kenan, das wird Heulen und Zähneknirschen sein, und Kenan hat nicht einmal Aussicht, Schuldirektor zu werden wie der Papa; wenn sie ihn nicht in den Griff bekommt, wird sie sich verschließen in eine Kammer ihres Herzens, zu der er keinen Zutritt hat, draußen aber das Gesicht der Mutter wahren. So pressen sie alles mit den Zitronen, verpacken alles mit den Koffern.

In die Bauernschaft

Janitscharenpauken, die näselnde türkische Klarinette, Saz und Baglama, alles in einem Münchener Studio aufgenommen. Osmyniye, die Kreuzritterburg, beherrschend über dem Land. Dann in die Bauernschaft. Apfelsinenplantagen. Häuser, aus Feldsteinen gebaut, mit Tonziegeln gedeckt, hinter Mauern dick mit Rosenhecken bewachsen. Kühe. Männer in Pluderhosen, tavla spielend unter einem riesigen Ölbaum. „Salem aleyküm!“ - das alte „Grüß Gott!“ der Dörfer. Ziegen über die Straße. Jungen und Mädchen in Schuluniformen, im Gleichschritt. Holzwagen, heimkehrend, von kleinen mageren Pferden gezogen, auf der Lade Frauen, eine an der anderen schlafend. Schuhputzjungen, sprungbereit vor den Großkopfeten, die unterm Ölbaum sitzen, über die schlechten Zeiten reden, die Töchter verheiraten.

Nuriye, im weißen Kleid, dezenten Schmucks, Ahmet Baruts Tochter, der dem Dorf die Schule gab, ist in der Gegend von Rabat Köyü eine legendäre Gestalt. Hier hat sie gelebt, bis sie fünf war. Jetzt kommt sie zurück, Jahr um Jahr, das Dorf zu beschenken. Schon wissen alle, daß sie da ist. In Dörtyol hat sie eingekauft, Kurzwaren, haltbare Lebensmittel, Stoffe. Jetzt packt sie aus, Stoffbahnen, Kleider, Wäscheleinen, Mehl, Zucker, kuskus, Haus für Haus, aus keinem Haus will man sie mehr weglassen. Da ist die alte Frau, der sie das Krankenhaus bezahlt hat. Da ist Geliha, die studieren konnte, das Schulgeld war da, Ingenieurwissenschaften, sie steht vor der Prüfung. Nuriye kauft, der Lehrer macht den Handschlag, eine Ziege und ein Schaf, es wird geschlachtet, alle Familien kommen, jeder kann Fleisch mitnehmen.

Es gibt Häuser mit Zimmern, kahl wie Garagen, ein paar Stickdecken an der Wand einziger Schmuck, auf dem Tisch steht ein Fernseher. In der Küche bückt die Mutter sich, um an die Kochstelle zu reichen; ein paar Töpfe, ein Korb mit Vorrat ist aller Hausrat. Sommers wird im Freien gekocht, im Ruch von Orangen und Rosen. Die Kinder essen von einem Tuch Bohnengemüse mit Brot, trinken aus einem Blechtopf. Die älteren Töchter tragen Hosen und Pullover, von Nachbarn geliehen, in früheren Jahren von Nuriye gespendet.

Nuriye erzählte mir einmal, sie habe Schneiderin lernen wollen, sei aber nicht hingegangen, weil sie sich ihrer Kleider geschämt habe. In der Schuluniform fiel der Unterschied zwischen Arm und Reich nicht auf, nach der Schule wurde die Armut wieder sichtbar. Und verarmt waren sie, nachdem sie in die Stadt gezogen waren, nachdem ihr Vater, in seiner großen Zeit Schuldirektor in Rabat Köyü, allen Besitz verspielt hatte und nur noch der Laden die Familie ernährte. Und der Vater trank, nahm die Älteste in Jungenkleidern mit zum tavla, und zu Hause gab es nur noch Zank und Knauserei. Jetzt hat Nuriye ihren Weg gemacht, jetzt soll Yasemin, älteste von sieben Töchtern einer Landarbeiterfamilie hier, Schneiderin lernen, sie soll Kleider bekommen, deren sie sich nicht schämen muß, auch eine Nähmaschine, und wenn sie ihren Weg gemacht hat, soll sie, ihrer Patin gedenkend, in ihr Dorf zurückkehren als Wohltäterin.

Ahmet Barut Hoca

Als die Regierung Atatürk die Bildung reformierte, konnte sie nur in jedes dritte Dorf einen Lehrer schicken. Es gibt Dörfer, in denen man Frauen nicht die Hand gibt, und manche haben noch im Alter die lateinische Schrift gelernt. Andere Dörfer gibt es, die stolz sind auf jeden Ingenieur, Maler, Regierungsbeamten, den sie hervorgebracht haben; es sind viele im Verhältnis zu den Einwohnern, Männer und Frauen gleichermaßen, auch von den ärmsten: Das sind die Gemeinden, die einen Lehrer gehabt haben.

Ein solcher Lehrer, ausgestattet mit einer Vollmacht und ein wenig Wissen, versetzt auf ein Dorf, das nicht einmal eine Schule hatte, war Ahmet Barut. Er nahm die Bauern in Fron, baute eine Zufahrtsstraße, ließ schwere Steine wegräumen, das Grundstück für die Schule einzuebnen, und baute die Schule, zusammen mit den Bauern und Landarbeitern des Dorfes. Ein Gebäude mit zwei Klassen, eine für Mädchen, eine für Jungen. Und er ging zu den Landarbeitern, den Häuslern, holte die Kinder zur Schule, vor allem die Mädchen, setzte die Schulstunden durch auch gegen die Hausarbeit, hielt Schule auch zur Erntezeit einen über den anderen Tag. Er beschaffte Bücher, Landkarten, eine Anatomiepuppe. Er unterrichtete besonders begabte Schüler bei sich zu Hause, besorgte Stipendien in der Fachschule, brachte sie an der Universität Ankara unter, verhandelte mit Behörden, sie einzustellen. Die Frauen zwischen fünfzig und siebzig, die seine Schülerinnen waren, sind heute selbstbewußt, gehen nicht mehr hinter ihren Männern, sondern neben ihnen, haben ihre Kinder und Enkel wieder zur Schule geschickt. Das war damals ein Schuldirektor: Ahmet Hoca. Über hundert Wagen sind mitgefahren bei seinem Trauerzug.

Rabat Köyü Ilkokoglu, der direktör heute, in Weste, das Klassenbuch unterm Arm, geht herum, eine Respektsperson, kennt jeden vom Dorf, eines jeden Geschichte, vermittelt Geschäfte, sein Wort gilt wie beim Notar; er wird eingeladen, spricht über die Ernte, das Wetter, das kaputte Moped, gibt Ratschläge, scherzt; er liebt sie alle, die jetzt jungverheiratet sind, waren seine ersten Schüler, als er kam; er ißt vom Hammel mit, von den Brotfladen, legt die Spieße, daß das Fleisch nicht verschmort, besser auf die Steine, bleibt immer der Lehrer. Freihafen Mersin

Ich sitze unter Platanen, im Schatten, trinke Wasser, lausche der Musik der Dinge. Hinter mir ein Flutkanal, jetzt trocken gefallen bis aufs Geröll, wo man Familien picknicken sieht. Anrainend die Neubauhäuser, dem Uferbogen versetzt angelegt. Vor mir das Leben der Geschäftsstraße. Früchtekarren, von Pferden oder Mauleseln gezogen, der Wohlstand des Händlers am Geschirr abzulesen. Matrosen. Männer am Trinkbrunnen. Gemüsestände, die Kisten auf Öltonnen ausgelegt. Frauen, die Wasser in Flaschen holen. Die Schilder der Yapi Ve Kredi Bankasi, des Berber-Shop. Geschorene Jungen, Tabletts mit Brezeln auf dem Kopf; nie verkaufen sie eine, es ist Wintersaison.

Mersin ist ein einziger Rohbau. Das Viertel hier besteht aus einförmigen apartumans, im Betonrahmen gebaut, Wasserbehälter auf den Flachdächern. Sie schaffen den Müll von den Balkonen, den Schutt aus den Seitengassen. Ordnung haben sie in almanya gesehen, jetzt verstecken sie, vereinheitlichen, legen Fassaden vor, richten die Straße zum Straßenbild aus. Viel Liebenswürdiges wird verschwinden. Sie arbeiten wie verzweifelt, die Dekadenz des Westens getreu nachzuschaffen. Sie fügen der Kultur, der immer wieder gemischten, eine neue Mischung hinzu. Sie haben es fertiggebracht, in den Slum eine Mall zu bauen, ein gähnend leeres City-Center, das auch leer bleiben wird, wenn in den neunziger Jahren der große Touristenstrom kommt. Denn die Touristen suchen Ursprünglichkeit, etwas, worauf nur Westeuropäer verfallen können, aber mit WCs englischer Art und gemilderter Küche. Und wieder ist die Türkei wie alle Jahrhunderte zuvor ein Durchgangsland, Bazar zwischen West und Ost, und jeder macht für sich das Beste daraus.

Der flamingo bulvari, palmengesäumt, sechsspurig, ein Hauch von Cannes; das sollen die Touristen von Mersin sehen. Und Geschäfte, in denen außer der Sprache des Namenszugs nichts an die Türkei erinnert. Abends gehe ich den bulvari entlang, an den Kasernen vorbei, wo mir bewußt wird, daß hier fast chilenische Verhältnisse herrschen, daß es Folter auf den Polizeiwachen, Willkür in den Gefängnissen gibt; auf den Bazar am atatürk parki, wo es wie auf allen Märkten der Welt von Disco bis Dorfmusik, von Lütticher Flohmarkt bis Hamburger Jungfernstieg alles gibt; zum luna parki am Meer, mit scheußlichem Neonlicht an den Lauben, zu laut die Musik, mit Blick über den Hafen. An der Mole werde ich von zwei Männern zum Essen eingeladen. Sie haben ein Feuer aus Reisig, Paradiesäpfel, Rettich, Gehacktes, Krabben. Drei andere fangen Krabben draußen auf der Steinaufschüttung. Ich habe sie schon mehrmals dort sitzen sehen. Der eine, Ali, sagt, er sei in Amerika Hippie gewesen. Die anderen kommen, bringen ihren Fang. Ich muß mit dem Bus nach Adana; das lassen sie nicht gelten, man kann auch später fahren. Also essen wir, ich reihe mein Schock türkischer Wörter zum Erzählen auf, wir trinken Raki und Wasser bis in den Abend. Auch sie werden vom Tourismus vertrieben werden, werden vor dem Sommer ihrer Wege ziehen.