Ein Reizwort hat ausgedient

■ „EG '92“: Der Binnenmarkt ist aus dem öffentlichen Interesse weitgehend verschwunden / Ein kleiner Streifzug durch die Literatur

Teil 40: Kurt Hübner

Das politische Beben in Osteuropa hat die Strukturen der öffentlichen Diskussion in der Bundesrepublik neu justiert. War noch bis Anfang November letzten Jahres das für den ersten Januar 1993 geplante Projekt des Europäischen Binnenmarktes das ökonomische Thema von Gazetten, Seminaren und Stammtischen, so hat Europa heute als Reizwort weitgehend ausgedient. Längst überwunden geglaubte Diskussionen über eine deutsche-deutsche Kleinstaaterei bestimmen das Bild. Das gilt nicht nur für Leipzig, sondern auch und gerade für breite Kreise der westdeutschen kritischen Intelligenz, die angesichts des Untergangs des real-existierenden Sozialismus ihr Gesichts- und Denkfeld immer stärker provinzialistisch einengen.

Dieser Provinzialismus ist nicht erst neuerdings entstanden. Ein kleiner Streifzug durch die gängige Literatur zum europäischen Binnenmarkt vermag zu zeigen, daß auch die bisherige Debatte um das Westeuropa-Projekt weitgehend ohne Anstöße aus dem links-kritischen oder auch dem gewerkschaftlichen Lager gelaufen ist. Wenn überhaupt, dominiert ein devensives Abwehr- und Schutzverhalten und bleiben utopische Entwürfe für ein „anderes Europa“ die Ausnahme.

Eine solche Ausnahme bildet etwa die Monographie von Hansjörg Herr und Klaus Voy, die Alternativen zur Währungspolitik der Deutschen Bundesbank und der Europäischen Gemeinschaft zu entwickeln versucht. Ausgehend von einer informierten Analyse des Weltwährungssystems der Nachkriegszeit - der Bretton Woods-Ordnung - und der Feststellung einer, in dem merkantilistischen Politikregime begründeten, störenden Rolle der Bundesrepublik in der Weltwirtschaft wird von den Autoren die bisherige währungspolitische Integration der EG einer kritischen Betrachtung unterzogen. In monetär-keynesianischer Tradition wird den bisherigen theoretischen Konzepten zur Entwicklung des europäischen Währungssystems, die die unterschiedlichen Interessen von Weichwährungsländern wie Italien und Frankreich sowie des Hartwährungslandes Bundesrepublik und der speziellen Position Großbritanniens zum Ausdruck bringen, eine weitere Option entgegengehalten: Unterhalb der Ebene eines europäischen Zentralstaates, die weder als kurzfristig machbar noch wünschenswert angesehen wird, sollen die wirtschaftspolitische Vielfalt und damit die nationalen Kompetenzen in Bereichen wie Fiskal-, Sozial- und Ökologiepolitik aufrechterhalten bleiben.

Gelingen soll dies durch eine Mischung aus Stufenflexibilität der Wechselkurse im Rahmen prinzipiell fixierter Kurse, nationaler Kapitalverkehrskontrollen und einer EG-weit koordinierten Fiskal-, Geld- und Einkommenspolitik. Ob ein solcher Mix, unterstellt einmal, er würde zustandekommen, tatsächlich die demokratischen Gestaltungsräume der europäischen Nationalstaaten sicherstellen kann, mag fraglich sein. Daß ein ökonomisch zusammenwachsendes (West-)Europa freilich fest verankerte demokratische Entscheidungsstrukturen benötigt, die dem unterschiedlichen Entwicklungstempo der einzelnen Gesellschaften und Regionen Rechnung zu tragen vermögen, dürfte unabweisbar sein.

Wie notwendig die Ausweitung von Demokratie ist, zeigt nicht zuletzt die Praxis der europäischen Strukturpolitik in Bezug auf die „Süderweiterung“ der Gemeinschaft. Wie nämlich Ingeborg Tömmel in einem Schwerpunktheft der 'Prokla‘, in dem sich weitere informative Beiträge zum Euro-Projekt finden, überzeugend zeigt, bewirken die vielfältigen Instrumentarien der EG-Strukturpolitik nicht etwa die Ausweitung von Entwicklung auf bislang randständige Regionen als vielmehr die selektive Stimulierung und Modernisierung relativ wettbewerbsstarker Sektoren und Regionen sowie die relative Ausgrenzung und weitere Marginalisierung traditioneller Produktionsbereiche.

In dem Europaprojekt der EG-Bürokraten und des Kapitals macht das sicherlich Sinn, schließlich geht es nicht um eine sozial- und ökologieorientierte Ausgleichung von Produktions - und Lebensbedingungen innerhalb des westeuropäischen Raumes, sondern um den Anschluß an die Weltmarktkonkurrenzfähigkeit des japanischen und US -amerikanischen Blocks, wie richtigerweise die DKPler Jörg Goldberg und Jörg Huffschmid in dem Band Europa 1992: Chance oder Risiko? feststellen. Allein birgt eine solche Feststellung wenig Neuigkeitswert. Weitergehender ist dann schon die Analyse von Susan Strange in dem von Roland Bieber u.a. herausgegebenen Band 1992: One European Market? - A Critical Analysis of the Commission's Internal Market Strategy. In dem sie herausarbeitet, daß ein so strukturiertes Europa seinen Weltmarktanteil nur halten oder ausbauen kann, wenn es die Liberalisierung allein auf den Binnenmarkt begrenzt und das japanische und US-amerikanische Kapital auf diese Weise zu Verhandlungen um wechselseitigen Marktzutrittsverhandlungen zwingen kann, wird der eurozentristische Blickwinkel, der größtenteils die Literatur bestimmt, wenigstens etwas relativiert. Die von Strange abgegebene Prognose dürfte die Eurokraten, würden sie sie zur Kenntnis nehmen, nicht gerade froh stimmen: Das Binnenmarktprojekt sei angesichts des japanischen und US -amerikanischen Vorsprungs nicht zeitgemäß.

Wie wichtig bei dieser von der EG aufgenommenen Aufholrennen - ganz entgegen dem gegenwärtigen politischen Diskurs - die Rolle unternehmerischer Planung ist, zeigen die Beiträge von Unternehmensvertretern in einem von der Bertelsmann-Stiftung innerhalb der Publikationsreihe Strategien und Optionen für die Zukunft Europas veröffentlichen Band. So schreibt etwa Ilse Stübinger v. Olshausen für die BASF in Ludwigshafen, daß ihr Unternehmen lange schon „Europa-Beauftragte“ benannt und eingestellt habe, „die die firmeninterne europäische Verbandsarbeit koordinieren“. Wenn sie schreibt, „die Verwirklichung eines europäischen Binnenmarktes (liege) im Interesse der Unternehmen der deutschen chemischen Industrie“, dann hat sie damit auch die Haltung der anderen weltmarktorientierten Sektoren der bundesdeutschen Wirtschaft exakt beschrieben.

Worum es der bundesdeutschen Industrie beim Binnenmarkt geht, wird aus den in diesem Band versammelten kurzen Statements offensichtlich: Um die Deregulierung zentraler Sektoren über den Umweg europäischer Gesetzesregelungen.

Daß solche Regelungen in einer wenig oder nicht -legitimierten demokratischen Struktur der Europäischen Gemeinschaft leichter durchgesetzt werden können als im Rahmen nationalstaatlicher Politik, leuchtet ein - sollte aber gerade deshalb als Anlaß genommen werden, ein wirklich demokratisches und den plumpen Machtinteressen des Kapitals zuwiderlaufendes Europaprojekt zu entwerfen.

Daß der rein functional approach als Begründung zum Wechsel vom wirtschaftlichen zu einem politischen Europa nicht ausreicht, macht ausgerechnet Lothar Späth in seinem Traum von Europa deutlich. Die bloße Verlockung eines riesigen Produktions- und Absatzmarktes hält er für die Schaffung der von ihm präferierten Vereinigten Staaten von Europa für unzureichend. Europa kann nur werden, so seine Botschaft, wenn es als politisches, ökonomisches, kulturelles und ideelles Einigungswerk vorangetrieben wird.

Bei einem solchen Vorhaben kann gegenwärtig aber weder auf die nationalen Gewerkschaftsbewegungen noch auf eine von Peter Glotz und anderen identifizierte Euro-Linke gesetzt werden. Wenn gilt, was der SPD-Europaparlamentsabgeordnete Gerd Walter in dem von Franz Steinkühler herausgegebenen Buch Europa '92 großspurig verkündet: „Eine Linke, die politisch und ökonomisch Weichen stellen will, muß 'Europa‘ zu ihrem strategischen Zukunftsprojekt machen. Eine Linke, die das nicht will, kann politisch abdanken und hat weiterhin viel Zeit für die Diskussion über Sonntagsarbeit“, auch kann man kann einer solchen Linken bereits nachwinken. Ade sagen müßte man dann allerdings auch dem Schreiber dieses flotten Spruches, der in seiner Aufgeregtheit offensichtlich völlig aus den Augen verloren hat, daß gerade die von ihm geschmähte Diskussion über die Sonntagsarbeit zum Zentrum des kapitalzentrierten Europaprojektes gehört.

Etwas näher an der politischen Realität ist da schon die Europaabgeordnete der kommunistischen Partei Italiens, Luciana Castellina, die in dem gleichen Band zwar auch das gewerkschaftliche und überhaupt das linke Hinterherhinken bedauert, aber zugleich einen Schwachpunkt des Eurokratenprojektes herausarbeitet, der ihrer Meinung nach in das Zentrum einer alternativen Europadebatte gehört: die fehlende Demokratie. Ihr Argument ist überzeugend: „1992 bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine gigantische Umverteilung der ökonomisch-finanziellen Machtstrukturen ohne jede demokratische Kontrolle. Immer mehr Entscheidungen werden auf übernationaler Ebene getroffen..., ohne daß sie vom europäischen Parlament wegen seiner geringen Machtbefugnisse kontrolliert werden könnten.“

Zu einem vergleichbaren Resultat gelangt auch Fritz Franzmeyer bei seiner Kosten-Nutzen-Analyse des europäischen Integrationsprozesses. Der Preis der voranschreitenden ökonomischen Integration besteht in einem Verlust an Demokratie.

Gewerkschaftliche Vorstellungen für ein „sozial-innovatives Europa“ (Steinkühler) liegen bislang höchstens in Umrissen vor, und dann auch nur innerhalb der jeweiligen nationalen Organisationen. Soweit vom Europäischen Gewerkschaftsbund Überlegungen angestellt und formuliert wurden, richten sie sich allein gegen ein europäisches Sozial- und Lohndumping und fordern eine ausgewogene Sozialpolitik innerhalb der Mitgliedsländer. Die Schaffung supragewerkschaftlicher Diskussions-, Kontroll- und Entscheidungsstrukturen hinkt weit hinter der von der Kapitalseite erreichten europa- und weltweiten Vernetzung hinterher. Die selbst von der stärksten europäischen Gewerkschaftsbewegung, der IG Metall, immer wieder geäußerten Furcht vor einer neoliberalen Offensive, die der Kapitalseite zum ökonomischen auch noch politischen Auftrieb geben könnte, ist angesichts solcher Realitäten sicher berechtigt.

Die Zeit zur Ausarbeitung politischer Alternativen drängt. Mit der allmählichen Auflösung des RGW-Blocks sind neue Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten für ein „anderes Europa“ dazugekommen. Auch wenn Jacques Pelkmans richtigerweise darauf hinweist, daß der Fahrplan bis zum 1.Januar 1993 noch einige Male wird revidiert und zeitlich gestreckt werden müssen, sollten die Kräfte für ein nicht -kapitalzentriertes Europa schnellstens aus ihrem Dämmerschlaf aufwachen. Noch eine solche Chance zum Nachholen der Hausaufgaben wird es vermutlich nicht geben.

Literatur:

Roland Bieber / Renaud Dehousse / John Pinder / Joseph H.H. Weiler (eds.): 1992. One European Market? A Critical Analysis of the Commission's Internal Market Strategy. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1988

Lothar Späth: 1992. Der Traum von Europa. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart

Dialog Europa: Europa 1992: Chance oder Risiko? Dokumentation, Diskussionforum 27.Mai 1989

Franz Steinkühler (Hrsg.): Europa '92. Industriestandort oder sozialer Lebensraum, VSA-Verlag, Hamburg 1989

Bertelsmann-Stiftung: Binnenmarkt '92: Perspektiven aus deutscher Sicht. Gütersloh 1988

Hansjörg Herr / Klaus Voy: Währungskonkurrenz und Deregulierung der Weltwirtschaft. Entwicklungen und Alternativen der Währungspolitik der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaften (EWS). Metropolis-Verlag, Marburg 1989

PROKLA: Euro-Fieber, Heft 75. Rotbuch Verlag, Berlin 1989